Lange habe ich nicht an diesen Schulweg gedacht: Ich steige durch ein Loch im Zaun, streife die Holunderbüsche, aus deren Beeren meine Mutter im Herbst Suppe kocht. Lasse die Siedlung hinter mir, die Schuppen, die Container einer Cargofirma. Laufe parallel zu den Schienen Richtung Bahnhof.
Da ist der Gemüsegarten - unklar, wem oder wozu er gehört. Irgendjemand hat auf dem Rasen einfach Maschendraht aufgezogen und Beete angelegt. In dem Garten gibt es Bohnenstangen, Borretsch, Kohlköpfe, ein klappriges Gewächshaus, in den Himmel ragende Sonnenblumen.
Da ist auch das alte Güterlager, die Ziegelsteine dunkelrot, fast schwarz, die Laderampe rostig, die Fenster eingeschlagen. Einen Sommer lang höre ich dort jemanden Schlagzeug üben. Da ist die Wiese, auf der sich unser Hund an Wintertagen im Schnee wälzt als wäre es der letzte Schnee für alle Zeiten. Und der Apfelbaumgarten, in dem ich einmal versuche, ein weißes Kaninchen zu fangen, das mir noch lange im Traum erscheint.
Dann kommen die Elektroanlage und das Schild mit einem vom Blitz getroffenen Männchen, das mich jedes Mal über die Endlichkeit des Lebens nachdenken lässt. Zur Linken ein Grundstück wie ein kleiner Wald, in dem der Hund oft lange verschwindet, und wo bald Reihenhäuser gebaut werden sollen. Im Haus schräg dahinter wohnt der Junge mit den unglaublich glatten Haaren, vor dem ich weglaufe, als er mir eines Tages eine Liebeserklärung macht. Und direkt daneben der Parkplatz der Disko, auf dem manchmal Tourbusse stehen, groß, schwarz, und so glänzend, dass ich mich darin spiegeln kann.
Hier tauche ich in den Tunnel, der trotz Umbau immer dunkel und unheimlich bleibt. Ich springe die Treppe hoch und kaufe mir ein Ticket, wenn es einer der Tage ist, an denen ich meinem Bruder die Monatskarte leihen muss. Streikt der Automat, rufe ich mindestens zweimal „Scheiße“, weil es das Wort ist, das ich am liebsten sage. Vom Bahnsteig aus sehe ich auf die Birken im Schotter. Manchmal fahre ich mit den Fingern über die Kieselsteinwand des Wartehäuschens. Bei günstigem Wind riecht die Luft nach dem Fladenbrot aus der nächsten Bäckerei. Dann kommt der Zug, rot oder grün, mit schweren Türen und einem steilen Metalltreppchen. Ich steige ein, setze mich ans Fenster.
Der Zug rollt los, Richtung Zentrum, Richtung Schule, eine kurze Fahrt, und ich lasse alles hinter mir.
Laura Müller-Hennig
geboren 1985, hat im Bereich Theater und Film gearbeitet, Medienproduktion und Psychologie studiert und widmet sich seit mehreren Jahren verschiedenen Kunstprojekten – u.a. im Blaumeier-Atelier und in der Film-Kooperative compagnons. Einige ihrer Texte hat sie in Kunstkatalogen, Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht sowie in der MiniLit-Reihe des Bremer Literaturkontors. Dort leitet sie seit 2018 eine regelmäßig stattfindende Schreibwerkstatt für junge Autor*innen.
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