LauschOrte
Während wir weiterhin auf klassische Lesungen vor Ort verzichten müssen, erobert das Bremer Literaturkontor den öffentlichen Raum auf andere Art und Weise mit Literatur. Zusammen mit dem Kammerensemble Konsonanz hat das Litko im Rahmen des Innenstadt-Belebungsprogramms Bremen wird neu das Projekt LauschOrte entwickelt, in dem sich sieben Autor*innen und Musik-Ensembles mit sieben Stationen der Bremer Innenstadt künstlerisch auseinandersetzen. Über einen QR-Code können Passant*innen an diesen Stationen ab voraussichtlich Ende Mai / Anfang Juni den verschiedenen literarisch-musikalischen Reflektionen lauschen. Das Projekt wird dauerhaft im Bremer Stadtraum zu erleben sein, und zwar an allen Stationen zweisprachig auf Englisch und Deutsch.
Mit dem Gedicht von Sujata Bhatt zu dem Mahnmal für die Opfer der Novemberpogrome veröffentlichen wir im Literaturmagazin erstmals einen der sieben Texte, die für das Projekt verfasst worden sind - und dazu gibt es auch direkt die deutsche Übersetzung von Michael Augustin. Mitte Mai gibt es dann einen ersten Höreindruck, dann präsentieren wir im Magazin eines der entstandenen Audios inklusive Musik sowie weitere Infos zu den LauschOrten!
How can you call this atonement?
This slab of solid concrete:
rectangular blocks stuck together,
stuck together and painted black—
a dull, flat, dead black with a matte finish—
Nothing lives here. This is just dead concrete
covered with dead paint.
This is a monument. For whom is it?
Do the dead really care?
There’s a hollow metal plate
that bears the names of the victims,
the innocent men and women
murdered at night in their own homes.
But the names are hard to read,
there is no contrast.
Everything has been painted
in a faded black. And so the victims
have become invisible, of no consequence,
just as they were in 1938.
The design was meant to be timeless.
The design was meant to be simple:
minimalist, straightforward
and completely unadorned.
What is timeless? What is for eternity?
What does it mean
for something to be timeless?
Abiding? Ageless? Dateless? Enduring?
But this monument looks like a half-hearted,
begrudging gesture. There is a feeling
of emotionless neutrality.
The artist had planned for a bench
to be here, just so, right
in front of the monument. It was to be
a place to sit, to contemplate—
But who would want to sit here,
by this desolate street corner?
Who would want to sit here
and stare at such banal ugliness?
In the end the artist died
before the monument was erected—
and the bench was left out.
Schoolchildren come and go,
people pass by on their way to wherever—
but how many of them know
anything about this monument?
Still, there are those who place flowers here
while others place small stones
along the ledge.
Sometimes there are visitors:
On the 27th of May 1997 Rabbi Dr. Jacob Gerd Wiener
from Silver Spring, Maryland,
born Koppel Gerd Zwienicki in Bremen
in 1917, recited the Kaddish
for his mother, Selma Zwienicki
and for all the dead.
Only the victims can forgive you
if they choose to.
A few years later
someone painted white swastikas
across the dull blackness.
A few years later during construction work
a portable toilet was placed against
the monument. Nowadays
dogs urinate on it,
someone has just vomited on it—
And yet there are those who still
place flowers here, while others
place small stones along the ledge.
What is timeless?
What is imperishable?
And so I tell you, what is timeless
is the Kaddish that Dr. Jacob Gerd Wiener
recited for the dead. What is timeless
is the soul’s memory of the sea and the sky.
What is timeless is the soul’s memory
of a bird’s song it has made its own.
What is timeless is the soul’s memory of life.
And so I tell you what is timeless
is the soul’s song of praise
as it leaves its dying body.
Wie könnt ihr sowas Sühne nennen?
Dieses Teil aus massivem Beton:
diese aufgestapelten Quader,
aufgestapelt und schwarz übermalt –
ein verwaschenes, glanzloses, totes Schwarzmatt –
Hier lebt gar nichts. Dies ist nur toter Beton
verdeckt von toter Farbe.
Dies ist ein Mahnmal. Für wen soll es sein?
Kümmert das die Toten denn wirklich?
Eine hohle Platte aus Metall gibt es da,
die trägt die Namen der Opfer,
der unschuldigen Männer und Frauen,
die man nachts in ihrem eigenen Zuhause ermordet hat.
Aber die Namen sind schwer zu lesen,
es fehlt an Kontrast.
Alles ist überstrichen
in einem verblichenen Schwarz. Und so sind die Opfer
unsichtbar geworden, sie fallen nicht ins Gewicht,
so wie damals, 1938.
Das Design sollte zeitlos sein.
Das Design sollte einfach sein:
minimalistisch, gradlinig
und völlig schmucklos.
Was ist zeitlos? Was ist für die Ewigkeit?
Wie soll denn etwas sein,
das zeitlos ist?
Unvergänglich? Ohne Alter? Ohne Jahreszahl? Ohne Ende?
Doch dieses Mahnmal wirkt wie eine halbherzige,
widerwillige Geste. Zu spüren ist
ein Mangel an Gefühl, als gelte es neutral zu sein.
Der Künstler hatte hier eine Bank
vorgesehen, einfach so, genau
vor dem Denkmal. Als einen Ort
um zu verweilen, um nachzudenken –
Aber wer würde hier sitzen wollen
an dieser trostlosen Straßenecke?
Wer würde hier sitzen wollen
und auf solch banale Hässlichkeit starren?
Schließlich aber starb der Künstler
bevor das Mahnmal errichtet wurde –
und man ließ die Bank weg.
Schulkinder kommen und gehen,
Leute streifen vorbei auf ihrem Weg wohin auch immer –
aber wie viele von ihnen wissen
etwas über dieses Mahnmal?
Aber es gibt auch noch welche, die hier Blumen ablegen
während andere kleine Steine
hinterlassen auf dem Sims.
Manchmal kommen Besucher:
Am 27. Mai 1997
sprach Rabbi Dr. Jacob Gerd Wiener
aus Silver Spring in Maryland,
geboren 1917 in Bremen
als Koppel Gerd Zwienicki
das Kaddisch für seine Mutter Selma Zwienicki
und für all die Toten.
Nur die Opfer können euch vergeben,
wenn sie denn so entscheiden.
Ein paar Jahre später
hat jemand weiße Hakenkreuze
auf das verwaschene Schwarz gemalt.
Ein paar Jahre später, als hier eine Baustelle war,
hat man ein Bauklo direkt an
das Mahnmal gesetzt. Heute
pinkeln es Hunde an,
jemand hat sich grad daran erbrochen.
Und doch gibt es auch welche, die hier immer noch
Blumen ablegen, während andere
kleine Steine hinterlassen auf dem Sims.
Was ist zeitlos?
Was ist unauslöschlich?
Und so sag ich euch, was zeitlos ist,
ist das Kaddisch, das Dr. Jacob Gerd Wiener
für die Toten gesprochen hat. Was zeitlos ist,
ist die Erinnerung der Seele an das Meer und den Himmel.
Was zeitlos ist, ist die Erinnerung der Seele
an den Gesang eines Vogels, den sie zu ihrem eigenen gemacht hat.
Was zeitlos ist, ist die Erinnerung der Seele an das Leben.
Und so sag ich euch, was zeitlos ist,
ist der Lobgesang der Seele,
wenn sie den sterbenden Körper verlässt.
Aus dem Englischen von Michael Augustin
Sujata Bhatt
geboren in Ahmedabad, ist in Indien und den USA aufgewachsen. Sie studierte im berühmten Writers’ Workshop an der University of Iowa und lebt heute als Schriftstellerin und Übersetzerin in Bremen. Ihre Lyrik wurde vielfach ausgezeichnet und in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Unter anderem erhielt sie den Commonwealth Poetry Prize, den Cholmondeley Award und zuletzt, in Mexico City, den Premio Internacional de Poesía Nuevo Siglo de Oro 1914-2014. Sie war Gastprofessorin in den USA und in Kanada und war zweimal Writer in Residence im Heinrich Böll Cottage auf Achill Island in Irland. 2020 gastierte sie als Writer in Residence am Bauhaus in Dessau. Sie hat auf zahlreichen Literaturfestivals in aller Welt gelesen. Ihre Bücher erscheinen bei Carcanet in England. 2020 veröffentlichte Hanser den Band Die Stinkrose, eine von Jan Wagner ins Deutsche übersetzte Auswahl ihrer Gedichte (eine der Lyrikempfehlungen 2021 auf der Liste der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung).
Zum Autorinnenprofil von Sujata Bhatt
Zum Interview mit Sujata Bhatt
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