Wir haben uns daran gewöhnt: Die Werte und Normen für ein zivilisiertes und am Gemeinwohl ausgerichteten Zusammenleben der Menschen wurden und werden von der westlichen Welt definiert. Das Wissen anderer Kulturen konnte wenig beitragen. Mit diesen Denkmustern räumen die Autoren gründlich auf. Sie gehen weit zurück in die Menschheitsgeschichte und widerlegen jene Ansätze, die unsere derzeitige Gesellschaftsform für den alternativlosen Endpunkt einer linearen Entwicklung halten, in der Ungleichheit zwangsläufig entstand.
David Graeber, Anthropologe und einer der Vordenker der Occupy Bewegung, arbeitete bis zu seinem frühen Tod 2020 jahrzehntelang mit dem Archäologen David Wengrow an diesem Projekt. Am Beginn steht die mittlerweile nicht mehr taufrische Erkenntnis, dass die Dominanz westlicher Wertvorstellungen untrennbar verknüpft war mit der Geschichte des Kolonialismus, der alle anderen Gesellschafts- und Denkmodelle marginalisierte, um die eigenen Machtansprüche zu rechtfertigen. Traditionelle Formen des Zusammenlebens in anderen Kulturen, die Ideen von Freiheit und Gleichheit, vor Jahrtausenden entwickelt und gelebt, würden gern als mythisch überformt betrachtet. Noch gängiger sei die Vorstellung, die Gemeinschaftsformen zu Beginn der Geschichte wären nicht geeignet gewesen, mit dem Bevölkerungswachstum, wechselnden Produktionsformen und der Komplexität moderner Gesellschaften Schritt zu halten.
Auf fast 700 Seiten präsentieren die Autoren eine Fülle von Beispielen, die rund um den Globus führen. Sie berichten von Ritualen, die seit dem Neolithikum existierten und dazu dienten, soziale Ordnungen neu zu denken, durchzuspielen und anzupassen. Sie erzählen von Gesellschaften, in denen es weder arm noch reich gab und Frauen selbstverständlich gleiche Rechte genossen. Sie überraschen mit der Erkenntnis, dass die Innovation in neolithischen Gesellschaften auf dem von Frauen angesammelten Wissensschatz beruhte. Auf Entdeckungen, die ähnliche Effekte hatten wie die technischen Erfindungen der Neuzeit.
Die Versuchsanordnung ist dabei weniger der Vergangenheit als der Gegenwart verpflichtet. Im Zentrum steht die Frage, warum es uns heute so schwerfällt, eine alternative Wirtschafts- und Sozialordnung auch nur für denkbar zu halten. Graeber und Wengrow liefern keine Antworten, vieles bleibt Spekulation. Die Stärke ihres Buches liegt vielmehr darin, unsere Neugier auf ein Gedankenexperiment zu wecken. Lesenswert!
ANFÄNGE. EINE NEUE GESCHICHTE DER MENSCHHEIT | David Graeber & David Wengrow | Übersetzung: Helmut Dierlamm, Henning Dedekind & Andreas Thomsen | SACHBUCH Klett-Cotta | Stuttgart 2022 | 667 S. | € 28,00
Silke Behl
ist Journalistin, Autorin und Moderatorin. Sie war lange Jahre in der Kulturredaktion von Radio Bremen tätig und ist außerdem im Vorstand des Literaturhaus Bremen.
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