Das detailreich illustrierte Buch Nicky & Vera behandelt eine thematische Randzone im Bilderbuch: den Holocaust. Viele Erwachsene meiden im Gespräch mit Kindern diesen historischen Zeitabschnitt, dennoch ist die Auseinandersetzung mit dem 2. Weltkrieg, den deutschen Verbrechen und anderen Aspekten des Krieges für viele Menschen – auch für Kinder – wichtig.
Kinder haben viele Fragen (und manche auch Erfahrungen) und schon einiges an Wissen über den Krieg: Sie schnappen Informationsfetzen und Wissensteilchen aus den Medien, aus Gesprächen der Erwachsenen und aus Erzählungen anderer Kinder auf. Ihre Fragen dazu bleiben von Erwachsenen oft unbeantwortet und das ist kontraproduktiv und lässt Kinder mit ihren Ängsten allein. In der geschichtswissenschaftlichen Didaktik gibt es längst Konzepte und behutsame Verfahrensweisen, um mit Kindern ab 5 Jahren über diese Zeit zu sprechen – in privater Runde, in Gruppen oder im Unterricht.
Peter Sís‘ wundervolles Bilderbuch eignet sich hervorragend für solche Gespräche mit Kindern. Auf vielschichtige Weise – hier kommunizieren die Illustrationen intensiv mit dem knappen Text – wird aus dem Leben zweier Menschen erzählt: Nicholas Winton, englischer Reformschüler, rettete als junger Mann 669 meist jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei. Statt in den Skiurlaub reiste er 1938 nach Prag und organisierte acht Züge, die 1939 von Prag nach London fuhren. In ihnen saßen unbegleitete tschechische Kinder, die zu englischen Pflegeeltern flüchteten und so ihr Leben retteten. Vera Diamantová (später Dissinger) war eines dieser Kinder. Sie überlebte gemeinsam mit ihrer Schwester den Holocaust durch die von Winton organisierte Flucht nach England. Ihre Eltern starben – beide waren in mehreren nationalsozialistischen Konzentrationslagern.
Im Buch und im wahren Leben begegnen sich Vera und Nicky 1988 wieder. In der britischen Fernsehsendung That´s life erzählt Nicky Winton erstmals über die Rettungsaktion, über die er mehr als 50 Jahre geschwiegen hatte. Im Publikum saßen mehrere von ihm gerettete Kinder und deren Kinder: Als der Moderator fragte: „Ist hier jemand, der sein Leben Nicholas Winton verdankt?“ standen sie alle auf.
Die Kindheit und das Leben der beiden Protagonist*innen werden im Buch farblich unterschiedlich dargestellt: Wintons Seiten sind eher blaugrau, Veras Seiten braun.
Peter Sís schafft es, in symbolhafter Weise viele historische Ereignisse darzustellen: So wird auf einer Buchseite der junge Nicky in Skiausrüstung auf dem geographischen Umriss der damaligen Tschechoslowakei positioniert. Umringt ist er von kreisförmigen Vignetten, in denen politische Ereignisse wie die Annexion Österreichs oder die Novemberpogrome dargestellt werden. Das politische Geschehen in den Vignetten veranlasst Nicky zum Handeln. So steht im Text dieser Seite: „Nicky erkannte, dass bald Krieg wäre und etwas unternommen werden musste. England nahm Flüchtlinge unter siebzehn auf, wenn sich Familien fanden, die sich um die Kinder kümmerten, und jemand die Reise organisierte.“
Diese Seite lässt sich, wie das gesamte Buch, vielschichtig betrachten: Ein 5jähriges Kind muss noch nicht viel über die Novemberpogrome oder das Münchner Abkommen wissen, es folgt eher dem Hauptpfad des Buches: der Rettung der Kinder. Mit älteren Kindern kann an dieser Stelle mehr über die Ereignisse gesprochen werden, die dem deutschen Angriffskrieg vorausgingen.
Dieses vielschichtig illustrierte Bilderbuch erzählt in knappen Worten die Geschichte einer Rettung. Es ist berührend und – leider – in einigen Dimensionen von Krieg und Flucht sehr aktuell.
NICKY UND VERA. EIN STILLER HELD DES HOLOCAUST UND DIE KINDER, DIE ER RETTETE | Peter Sís | Übersetzung: Brigitte Jakobeit | BILDERBUCH Gerstenberg | Hildesheim 2022 | 64 S. | €18,00 | ab 5 Jahren
Petra Maurer
Die Buchhandlung Leseland
ist auf Kinder- und Jugendbücher spezialisiert. Hier finden sich hunderte von Büchern für vielfältig interessierte Lesende und Vorlesende jeden Alters. Einer der Schwerpunkte sind diversitätsbewusste Kinder- und Jugendbücher. Die Buchhandlung funktioniert als Kollektiv, in dem ein ausgebildeter Buchhändler, Pädagog*innen, Historiker*innen und andere Buchbegeisterte arbeiten, die gerne beraten. Regelmäßig gibt es Lesungen, Bilderbuchkinos oder Kamishibai-Erzählungen. Unter dem gleichen Dach arbeitet das Bilderbuchprojekt eene-meene-kiste, das tolle, diversitätsbewusste Kinderbücher an Kindergruppen und Schulen verleiht.
Petra Maurer arbeitet im Kinder-und Jugendbuchladen Leseland und als Fortbildnerin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu Themen wie Mehrsprachigkeit, Literacy und Diversität in Bilderbüchern. Am Denkort Bunker Valentin arbeitet sie in verschiedenen Projekten v.a. mit Kindern als Pädagogin und Historikerin.