Dragman heißt im echten Leben August Crimp und ist ein liebender Familienvater und pensionierte Superheld*in. Er lebt zufrieden in seinem heteronormativen Familienleben (oder so zufrieden, wie man in einer spätkapitalistischen Dystopie, in der man seine Schulden mit dem Verkauf seiner Seele begleichen kann, leben kann) vor sich hin. Bis eines Tages Morde an trans Frauen geschehen und August weiß, dass er sich wieder Frauenkleider anziehen muss (denn nur das verleiht ihm Superkräfte), um weitere Morde zu verhindern. Zusammen mit Doggirl zieht Dragman los und begegnet toxischer Männlichkeit, Transfeindlichkeit, Korruption und einer erneuten Genderkrise. Eine Parodie auf die verstaubten Vorurteile, aus denen so viele Superheld*innen-Comics gemacht sind und eine Erinnerung daran, dass Gender und Sexualität kompliziert und spannend und vielschichtig sind.
Witzig, düster, großartig illustriert und endlich der Superheld*innen-Comic, den wir alle verdienten und nie bekamen.
Eine autobiografische Graphic Novel über migrantisierte Arbeiter*innenkämpfe, Unsicherheiten in (polygamen) Beziehungen und dem Sich-einsam-Fühlen, in einer Stadt, in der man als fremd markiert wird.
Darya Bogdanska schrieb diese Graphic Novel in der Zeit, in der sie beschlossen hat, von Polen nach Malmö zu ziehen. Der Traum von einem aufregenden, neuen, besseren Leben zerbrach schnell, als sie gegen die gläsernen Mauern des Arbeitssystems rannte, das Menschen mit Migrationshintergrund täglich diskriminiert. Keine Arbeit ohne Aufenthaltsgenehmigung, keine Aufenthaltsgenehmigung ohne Arbeit. Aus Existenznot nimmt Darya einen schlecht bezahlten Job nach dem nächsten an, weit unter dem Mindestlohn, ohne Arbeitsvertrag und ohne ein Minimum an Arbeitsrechten.
Darya sieht schnell, dass all das System hat, und versucht sich in Gewerkschaften zu vernetzen und Handlungsmacht zu gewinnen.
Die Graphic Novel erzählt von einem kapitalistischen Lohnarbeitssystem, das diskriminiert, von politischen Kämpfen, die unsichtbar gemacht werden, der Wichtigkeit von Gewerkschaften und zu wenig Schlaf.
Moa Romonova gelang mit ihrem Debüt ein Buch, das voller Witz, Eigensinn und Melancholie einen Schmerz einfängt, den ich bis heute nicht beschreiben kann. Als Grundlage dienen die früheren Tagebucheinträge von Moa Romonova aus einer Zeit, in der sie schwer depressiv war und mit Panikattacken und Existenzangst kämpfte.
Die Hauptperson ist Moa selbst, irgendwo in ihren 20ern, irgendwas mit Kunst studierend, irgendwie einsam und verdammt gelangweilt. Sie beschreibt ihren Alltag mit Depression wie folgt:
„Es ist, als wenn einen jemand mitten in der Nacht weckt und fragt: Könntest du mir vielleicht helfen, dieses völlig überflüssige Loch zu graben bei Minusgraden – ohne Jacke. Und du denkst dir so ‚nein‘.“
Dann lernt sie auf Tinder einen Mann kennen, der nur famous-TV-guy-53 genannt wird, dargestellt mit einer Papiertüte über dem Kopf und ehrlich interessiert an Moa und ihrer Kunst. Sie gehen auf ein Date, es ist vielleicht eher weniger ein Date, als mehr ein freundschaftlicher Drink zwischen Menschen, die alterstechnisch ein bisschen zu weit auseinander liegen. Sie reden, sie diskutieren und fast fühlt es sich ein bisschen nach dem Helden an, der kommt, um Moa zu retten und ihre Therapiekosten zu decken (alles wegen der Kunst, versteht sich). Dabei stellt der berühmte-Fernsehpromi-53 lediglich einen komplett anonymisierten Nebencharakter dar. Er ist einer von vielen, vielen Männern, die in ihrer Midlifecrisis stecken, junge Frauen daten wollen und zu langweilig sind, um überhaupt ein Gesicht zu bekommen.
Der Fokus liegt woanders: Die Graphic Novel erzählt eine Geschichte von einer Krankheit, ohne zu glorifizieren und ohne sie runterzuspielen.
Sie zeigt Moa in einer unaufgeräumten Wohnung, wie sie Unterstützung braucht, um überhaupt duschen gehen zu können, unaufgeregt, nüchtern und schmerzhaft.
Die Charaktere sind mit unförmig großen Körpern und kleinen Köpfen gezeichnet, der Stil farblich durchdacht und konträr, die meisten Charaktere per Hand gezeichnet und der Hintergrund schlicht gestaltet, mithilfe der Fotoshop-Skills, die 2005 beliebt waren und die jetzt in Vergessenheit geraten sind.
IdentiKid beschreibt das Gefühl einer Generation, die sich Wohnraum kaum leisten kann, Drogen immer weniger als Option sieht, gegen psychische Krankheiten kämpft, und gegen das System, das diese verursacht, traurig damit, alleine zu sein und noch trauriger darüber, damit nicht alleine zu sein.
In einer Nacht durchgelesen, weil alles zu genial und zu schmerzlich war, um noch schlafen zu können.
DRAGMAN | Steven Appleby | Übersetzung: Ruth Keen | GRAPHIC NOVEL Schaltzeit Verlag | Berlin 2021 | 336 S. | €29,00
VON UNTEN | Daria Bogdanska | Übersetzung: Katharina Erben | GRAPHIC NOVEL Avant Verlag | Berlin 2019 | 200 S. | €22,00
IDENTYKID | Moa Romonova | Übersetzung: Katharina Erben | GRAPHIC NOVEL Avant Verlag | Berlin 2020 | 184 S. | €25,00
Mathilda
macht Kunst, Politik und politische Kunst und ist schockiert, Comics und Graphic Novels erst vor Kurzem für sich entdeckt zu haben. Mathilda ist Teil des queerfeministischen Kollektivs Ros*innen, das sich in Bremen gefunden und verliebt hat. Die Ros*innen verstehen sich als intermediales Projekt und versuchen durch Poesie, Musik und den weitläufigen Begriff der Kunst, die Mauern des heterosexuellen, weißen cis-Patriarchats ein kleines bisschen einzustürzen.
Zum Literaturhaus-Podcast mit den Ros*innen