Lesezeichen: Jutta Reichelt

Menschen fahren auf einer Rolltreppe.
© Takin Shotz

Perspektiven
von Jutta Reichelt

„Am Ende ist doch alles eine Frage der Perspektive.“ Es kommt mir so vor, als würde ich diesen Satz immer öfter hören. Oder vielleicht höre ich ihn auch nur immer öfter in Zusammenhängen, in denen ich mich darüber ärgere. Dabei war er für mich lange Zeit ein willkommener, ja ein notwendiger Hinweis darauf, wie sehr sich unser Erleben, unser Wissen, unsere Emotionen, unsere Haltungen unterscheiden können – je nachdem, welche Perspektive wir einnehmen. 

Und daran hat sich auch nichts geändert. Im Gegenteil. Denn noch immer werden ja die Perspektiven von Frauen, von behinderten Menschen, von Menschen, die in irgendeiner Weise von „der Norm“ abweichen, viel zu wenig berücksichtigt, noch immer ist nicht selbstverständlich, dass ihre Perspektive berücksichtigt, ja überhaupt wahrgenommen wird. Und doch …

Und doch ärgere ich mich in letzter Zeit manchmal, wenn ich diesen Satz höre, weil er nicht immer gilt, weil er manchmal die wahren Verhältnisse verschleiert oder behauptet, dass es so etwas gar nicht gibt und geben kann: Tatsachen, die so sind, wie sie sind – unabhängig, aus welcher Perspektive man sie betrachtet. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Es verhindert oder verzögert die so unbedingt notwendigen politischen Maßnahmen, wenn wir so tun, als könne man zur menschengemachten Klimakrise vernünftigerweise zwei gegensätzliche Ansichten vertreten und es verlängert das Unrecht, wenn wir (wie es gerade im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt immer wieder vorkommt) so tun, als seien Täter:innen und Opfer kaum auseinanderzuhalten oder zu identifizieren.

Aber natürlich kann ich nicht lange über Perspektiven nachdenken, ohne bei Erzählperspektiven zu landen. Ich denke an die vermeintlich einfache Ich-Perspektive, bei der Schreib-Noviz:innen oft übersehen, wie schnell aus dem einen Ich zwei werden, nämlich ein schreibendes und ein erlebendes Ich. Ich denke daran, dass die richtige Perspektive für einen Text eher eine Frage des Gefühls ist, als eine Frage des Nachdenkens. Und irgendwann, wenn sich mein Denken längst wieder beruhigt hat, wenn ich nicht mehr vor mich hin grummele, dann fällt mir ein, dass das Schreiben (wie auch das Lesen) von Geschichten die Empathie fördert und uns dadurch zu mitfühlenderen Menschen macht. Warum? Weil wir lesend oder schreibend, ob wir wollen oder nicht, automatisch die Perspektiven anderer einnehmen …


Jutta Reichelt

wurde 1967 geboren und lebt als Schriftstellerin und Geschichtenanstifterin in Bremen. Sie schreibt Romane, Erzählungen, literarische Essays und bloggt Über das Schreiben von Geschichten. Für unterschiedliche Institutionen entwickelt und leitet sie Schreibwerkstätten und -projekte, darunter zwei Schulhausromane für das Literaturhaus Bremen und die Offene Schreibzeit für das Bremer Literaturkontor. Im September startet außerdem ihre Schreibwerkstatt Queer Schreiben - Gegen die Norm!. Jutta Reichelt wurde für ihre schriftstellerische Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2020 mit dem Projektstipendium der Freien Hansestadt Bremen. Das ausgezeichnete Projekt ist Ende August unter dem Titel Mein Leben war nicht, wie es war im Kröner Verlag erschienen.

Zum Autorinnenprofil von Jutta Reichelt

Portrait der Autorin Jutta Reichelt
© Dorothea Salzmann-Schimkus

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