1985
Der Sommer naht und die Wärme der Sonne durchdringt meine lange Kleidung.
Ich laufe nach meinem Einkauf über den Markt nach Hause, um die Burka abzulegen, die es mir erschwert, die Hitze zu ertragen.
Die Wege sind sandig und steinig und wirbeln bei jedem Schritt feine Sanddünen auf.
Meine Füße sind leicht verschmutzt vom Schutt des Weges, der feine Staub setzt sich auf meinen Sandalen ab.
Nach einer Weile erreiche ich mein Elternhaus.
Als älteste Tochter meiner Eltern ist es meine Pflicht, die häuslichen Tätigkeiten zu übernehmen.
Also trage ich meinen Einkauf in die Küche und beginne mit der Vorbereitung des Mahls.
Manchmal träume ich vor mich hin.
Stelle mir vor, wie es wäre, nicht gefangen zu sein, nicht gefangen in meinem Dasein, in meinem Leben.
Wie es sich wohl anfühlen mag, selbst zu bestimmen?
Nicht von einem Staat dirigiert zu werden, mir meine Rechte nehmen zu lassen, das Recht auf Bildung, auf ein eigenes Leben.
Ich wusch mir die Hände und bemerkte, dass ich noch ein wenig die Ruhe nutzen konnte, bevor ich mich meiner weiteren Tätigkeit hingeben musste.
So ging ich in den Garten und setzte mich unter unseren Mandelbaum.
Nahm mir ein altes Buch, das mir meine Mutter schenkte und begann zu lesen.
Meine Mutter war eine recht gebildete Frau gewesen.
Die zu damaliger Zeit an einem Mädchen-Gymnasium in Kabul als Lehrerin tätig war.
Meist erzählte sie mir die Geschichten ihrer schönen Tage, bevor die Wende kam und die Unruhe sich ausbreitetet, die bis heute anhält.
Die Frage, ob die UdSSR unser Feind ist, stelle ich mir kaum noch.
Auch wenn viele Menschen unseres Volkes dies doch glauben.
Modar erzählte mir andere Begebenheiten.
Schließlich haben die Sowjets unsere Heimat unterstützt, uns dabei verholfen das Land zu modernisieren, uns Schulen aufgebaut und den Sozialismus ins Land geführt.
War es denn so verwerflich?
Der Sommer naht und ich hole tief Luft, um den Duft der Mandelbäume einzuatmen.
Lasse mich ein letztes Mal von der Sonne küssen, bevor ich wieder ins Haus gehe, um meinen Pflichten nachzukommen.
Boba stand eine Weile an der Tür und beobachtetet mich, ohne dass er mir auffiel.
Er lächelte und sagte: Mein Pari, bist du wieder zu deinen Träumen geflogen?
Ich musste leicht schmunzeln, Boba kennt mich gut und weiß, was für eine kleine Träumerin ich doch bin.
Ich nahm ihn in den Arm und er sagte mir: „Eines Tages werden wir gehen, auch wenn es schwer wird und ein Teil von uns immer zurück bleibt, wir werden gehen für dich, für deine Träume.“
Wohin uns das einst auch führen mag, das steht noch auf einem ungeschriebenen Blatt, doch vielleicht werde ich die Freiheit erleben, die mein Herz sich sehnsüchtig wünscht.
Boba hatte etwas Geld gespart und beiseite gelegt, dies wusste ich, doch meinem jüngeren Bruder sagten wir nichts, bis Boba einen sicheren Weg fand, uns unbeschadet aus diesem Land zu schaffen.
Denn meine Heimat bist du schon lange nicht mehr.
Hast mich heimatlos gemacht, mit deinen Werten und Normen und der Kühle deiner Macht.
Ein paar Wochen später, es war Sommer deiner Zeit, so saßen Boba und ich unter den Blüten deiner Mandelzweige, als er zu mir sprach und sagte: „Wollen wir gehen?“ „Wohin Boba?“
„Nach Deutschland mein Kind.“
In mir pochte es, mich überkam eine Wärme, während sich Tränen ihren Weg nach draußen suchten und meine Lider verließen.
Ich schloss die Augen und ließ seine Worte wirken.
Spürte wie meine Knie weich wurden und mein Körper leicht zitterte.
Reisen in ein neues Leben, eine neue Geschichte und vielleicht werde ich eines Tages frei sein, frei von all dem Hass der Unterdrückung dieses Regimes.
Würde ich Dir einen Namen geben, dann wärst Du wohl der Sommer meines Lebens.
Sadaf Zahedi
geboren am 23. Februar 1985 in Kabul, Afghanistan. Zahedi ist ein Kriegsflüchtlingskind und lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in Deutschland. Aufgewachsen in Bremen. Immer wieder geht sie mit ihren Gedichten auf Bühnen, um Organisationen bei Spendensammlungen zu unterstützen. Neben der Begeisterung zum Schreiben bringt sie seit ihrem 25. Lebensjahr ihr Erlebtes sowie ihre Gefühle auch auf Leinwand und hat die Werke bei Kunstausstellungen gezeigt. Wird etwas verkauft, spendet sie das Kindern in Kriegsgebieten. Mit ihrer Erzählung Vier Jahreszeiten, die von der Erik-Neutsch-Stiftung im Wettbewerb 2020/21 ausgewählt und im April 2022 vom Verlag Neues Leben veröffentlicht wurde, geht sie zur Zeit auf Lesungen. Des weiteren wurden Texte ihrer Erzählung vom Transkulturellen Theater Osnabrück im Stück Dazwischen mit eingebracht. Inzwischen ist sie selbst Mutter von drei Kindern und nutzt momentan ihre Elternzeit, um sich ganz dem Schreiben zu widmen.