Der alte Traum, die Welt zu sehen und fremde Länder zu bereisen. Schon allein der Gedanke!
Verkehrt, verworren für eine Frau, genau wie die Beschäftigung mit Naturwissenschaften.
Schluss jetzt, Ida Pfeiffer!
Es gibt Vögel, die werden eingesperrt und Blumen, die wachsen auf Stofftapeten.
Erst in Triest, beim Blick übers Meer, kommt die Sehnsucht nach Freiheit zurück.
Jetzt oder nie, wer zögert, verliert!
Sie hat ihre Pflichten als Mutter erfüllt, die Söhne stehen auf eigenen Füßen.
Warum kann sie als Frau nicht über Weltmeere fahren, Sprachen und fremde Völker erforschen?
Viel zu gefährlich, sagen Verwandte und Freunde. Das Klima, die Pest und Insektenplagen, schlechte Nahrung und dann dein schwacher Körper. Ausgeschlossen. Wie sollst du das je als Frau überstehen? Und bedenke, die männlichen Übergriffe!
Mein Körper ist stark und abgehärtet, mein Geist fürchtet sich nicht vor fremden Gefahren. Überdies, mal ehrlich, mit vierundvierzig bin ich für Männer doch uninteressant! Auch wenn nicht klar ist, was mich erwartet, so weiß ich doch, was ich aufgeben will, ruft sie heiter, tauscht ihr Korsett gegen Hosen ein und nimmt Abschied von Söhnen und Freunden, die immer noch ungläubig vom Ufer aus winken.
Geht freudig an Bord, als koste es keine Mühe, fast sechzehn Mal das Schiff zu wechseln, ehe sie Konstantinopel erreicht; oder Wasser aus den Kajüten zu schöpfen, wenn der Sturm das Schiff fast zum Bersten bringt; nachts vor Übelkeit nicht schlafen zu können, sich krampfhaft ans Bett klammernd, um nicht herauszufallen; nur noch das schreckliche Heulen zu hören, wenn der Wind durch Masten und Taue fegt, das Rollen der Ankerketten, die Schreie des Kapitäns, der um die Ladung im Zwischendeck fürchtet: das Geflügel, die Tongefäße oder Säcke mit Korn, an die man sich als Fahrgast gut anlehnen kann, wenn sonst kein Schlafplatz vorhanden ist. Frau Pfeiffer ist Unbequemes gewohnt! Außerdem eignen sich Säcke als Schreibunterlage, denkt sie, denn ab jetzt wird sie Berichte verfassen und selbst in der Wüste nach Sandhügeln suchen oder dem Rücken eines Kamels, um mit der Bleifeder aufzuzeichnen, was sie am Tage gesehen hat.
Mut und Entschlossenheit sind gefragt.
Und auch wenn ihr glaubt, dass es sich für eine Frau nicht schickt, ruft sie den Winkenden zu, die allmählich in der Ferne verschwinden, so wünscht mir dennoch Glück, dass ich jenseits des Meeres entdecken werde, was ich in der Heimat nicht finden kann.
Ursel Bäumer
studierte Germanistik und Kulturwissenschaft in Münster und Bremen. Nach dem 1. und 2. Staatsexamen war sie zunächst als Gymnasiallehrerin in Bremen tätig und entschied sich dann für ein Leben als freie Schriftstellerin. Sie gründete 2005 den gemeinnützigen Verein workshop literatur e.V., der literarische Veranstaltungen für Bremer Oberstufenschüler*innen organisierte und den sie bis 2014 als Vorsitzende leitete. Ursel Bäumer schreibt Romane, Erzählungen und Kurzprosa. 2011 erschien ihr erster Roman Zeit der Habichte im Dörlemann Verlag. Für ihre schriftstellerische Arbeit wurde Ursel Bäumer mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2021 mit dem Projektstipendium der Freien Hansestadt Bremen für das Schreibprojekt MAMAN, das sie 2022 als Writer in Residence in der Bremer Landesvertretung in Berlin erfolgreich vollendete und als Louise bei Nagel und Kimche veröffentlichte.
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