Es gibt ein Lied, das davon erzählt, wie kostbar Gedanken sind: Die Gedanken sind frei. Die Ursprünge des Liedes liegen in einem Text, der im 19. Jahrhundert auf Flugblättern verbreitet wurde. Ich selbst sang es oft, im Kinderchor, in der Schule, oder laut und inbrünstig, allein, im VW-Käfer stehend, als Begleitung zu der Version meiner Kinderlieder-Kassette.
Meine Mutter liebte dieses Lied wie kaum ein anderes. Der Text allegorisiert Gedanken als resolute Wesen, die eingesperrten Menschen zu Freiheit verhelfen. Zugleich sind Gedanken schutzbedürftig, bedroht vom „finsteren Keller“, von „Pulver und Blei.“ Als Kind jagte mir insbesondere die Zeile „Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschiessen“ eine Gänsehaut über den Rücken.
Warum meine Mutter dieses Lied so liebte, verstand ich erst viel später. Als Angehörige der schlesiendeutschen Minderheit weiß sie sehr genau, wie es ist, durchleuchtet, misstrauisch als „Fremde“ beäugt zu werden. Sie hatte Zeit ihres Lebens das Gefühl, sich verstecken zu müssen. Ihren Körper, ihre Herkunft. Ihre Klugheit. „Ich denke mir meinen Teil“, ist eine Wendung, die sie so oft gebraucht. Als der Pfarrer des Ortes ihr ein Zeugnis ausstellte, benutzte er die Formulierung, sie habe sich an den Ereignissen im Dorf „innerlich beteiligt.“
Wer wagt es, von seinen Gedanken Gebrauch zu machen: mitzumischen, aufzubegehren? Wer hat die Zeit, die Muße und das Selbstbewusstsein, sich politisch zu bilden? Wer Tag für Tag seine Arbeitskraft verkaufen muss, ist am Abend meist so erschöpft, dass keine Kraft bleibt, einen komplizierten politischen Leitartikel zu lesen. Oft sind es nur noch Fetzen, die durch das Bewusstsein segeln.
Aber es ist nicht allein die fehlende Zeit. Was ich über mein Denken denke, hängt von dem Urteil anderer ab. Wer sagt, was klug ist und was dumm? Es macht mich wütend und traurig, wenn jemand einen anderen als „dumm“ bezeichnet. Insbesondere Kinder und Jugendliche aus Familien mit wenig Geld trifft dieses Urteil. Es steht bereits fest, noch bevor sie den ersten Atemzug nehmen.
Der einzige legitime Grund, Dummheit zu kritisieren, ist im Zusammenhang mit Macht oder Gewalt. Und Macht siegt über Intellekt. Fast immer. Umso wichtiger ist es, wenn Menschen, die Unterdrückung erfahren, sich gegenseitig zum Denken ermutigen.
Die Gedanken sind frei gilt als ein Volkslied mit demokratischem Charakter. „Bitte sing mir ein Volkslied“ singt Sophie Hunger in dem Song 1983 auf ihrer gleichnamigen Platte. Ich wünschte mir mehr solche Lieder. Ohne Volk. Wie schön ist das englische Wort „People“. Power to the people. Gedanken to the people.
Daniela Dröscher
wurde 1977 geboren und ist in Rheinland-Pfalz aufgewachsen. Sie schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Studiert hat sie in Trier, London, Potsdam und Graz, heute lebt sie in Berlin. Ihr Romandebüt Die Lichter des George Psalmanazar erschien 2009 im Berlin Verlag, es folgten der Erzählband Gloria und der Roman Pola sowie das Memoir Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft bei Hoffmann & Campe. Sie wurde u.a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds sowie dem Robert-Gernhardt-Preis (2017) ausgezeichnet. Seit Herbst 2018 ist sie Ministerin im Ministerium für Mitgefühl. Im August 2022 ist Daniela Dröschers Roman Lügen über meine Mutter im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Der Roman stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2022.
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