In den nächsten zweieinhalb Stunden blickte ich auf eine Bühne, auf der sich, bis auf eine kurze Unterbrechung, ausschließlich Frauen befanden. Frauen, die wenig oder gar nichts anhatten und deren Körper so unterschiedlich waren, wie die Körper von Frauen in einer vollen U-Bahn. Die Frauen in dem Stück tanzten, sprachen, sangen, lachten, weinten, turnten, tätowierten, piercten und schluckten Schwerter. Und sie schwammen und tauchten, denn im Zentrum der Bühne befand sich ein Pool. Irgendwann wurde eine der Performerinnen mit weit gespreizten Beinen in seinem Zentrum aufgebahrt und eine Operation inszeniert, während sie erzählte, wie sie von ihrem Tätowierer vergewaltig worden war. Und das Wasser von der Bühne bahnte sich einen Weg, überrollte mich, angestoßen von dem Schmerz, der ihre Erzählung in mir auslöste. Und da war das deutliche Gefühl, dass es nicht nur ihr und mein Schmerz war, sondern dass überall im Publikum Frauen saßen, die ähnliches hätten erzählen können. Und ich gab nach und weinte. Und ich hatte Virginie Despentes im Kopf, die in ihrem Buch King Kong Theorie schreibt: Ja, wir waren draußen, in einem Raum, der nicht für uns bestimmt ist. Ja, wir haben überlebt, statt zu sterben. Ja, wir waren im Minirock, allein, ohne männliche Begleitung, in der Nacht, ja, wir waren dumm und schwach, unfähig, ihnen die Fresse einzuschlagen, schwach, weil Mädchen lernen, schwach zu sein, wenn man sie angreift. Wir waren das Risiko eingegangen, wir hatten den Preis bezahlt. Und statt uns zu schämen, dass wir lebten, konnten wir beschließen aufzustehen und uns so gut wie möglich davon zu erholen.
Am Ende des Stückes war das Wasser rot gefärbt und Plastikflaschen trieben auf der Wasseroberfläche und der ganze Saal stand auf, um zu applaudieren. Auch ich, die ich mich noch vor zwei Tagen auf der anderen Seite der Welt befunden hatte, an einem Pool auf dem Dach eines Hotels, wenige Straßen entfernt von einem Fluss, in dem der Müll schwamm und Kinder im trüben Wasser angelten, stand jetzt im vollen Theatersaal und applaudierte. Nach dem Stück traf ich L. im Foyer und wieder warf ich mich in ihre Arme und wir hielten uns gegenseitig, denn dafür sind unsere Körper gemacht, so lässt sich der Schmerz ertragen.
Am nächsten Tag erhielt ich ein Paket. F. hatte es mir geschickt, darin Marmelade und Apfelmus von seinen Großeltern, einen Stern, der leuchtete. Und eine kleine Pferdefigur, eingewickelt in Papier. Und ich sah F. sofort vor mir, an seinem Schreibtisch, wie er das Papier vor sich ausgebreitet hat und dann das Pferd zärtlich, als wäre es lebendig, in das Papier einwickelt, um es mir zu schicken. Denn solche Männerhände gibt es auch, man neigte nur dazu sie zu vergessen, weil die anderen so viel Raum einnehmen und ständig mit Messern wedeln. Ich griff das Pferd heraus, wickelte es aus dem Papier, hielt es ins Licht und hatte Leslie Jamison im Kopf, wie sie in ihren Essays Große Universaltheorien über den weiblichen Schmerz mit den Satz enden lässt: Ich will, dass unsere Herzen offen sind. Und dass sind sie, schrieb ich L. kurz darauf in einer Nachricht. Unsere Herzen sind offen. Trotz allem, was uns widerfahren ist. Und wir werden sie nicht verschließen. Niemals.
Helene Bukowski
wurde 1993 in Berlin geboren und lebt heute wieder in ihrer Geburtsstadt. Sie studierte am Literaturinstitut Hildesheim und leitet neben dem Schreiben auch Kurse und Workshops für Kreatives Schreiben. 2019 erschien ihr Debütroman Milchzähne, für den sie u. a. für den Mara-Cassens-Preis, den Rauriser Literaturpreis und den Kranichsteiner Literaturförderpreis nominiert war. Im Jahr 2021 leitete Helene Bukowski das Projekt Bremer Schulhausroman an der Bremer Oberschule in den Sandwehen. 2022 erschien ihr zweiter Roman Die Kriegerin.
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