Vor vielen Jahren sah ich einen Film, der mich beeindruckt hat, ein Film des Palästinensers Emad Burnat, der in Koproduktion mit dem israelischen Regisseur Guy Davidi entstanden ist. 5 Broken Cameras dokumentiert die Siedlungspolitik in der West Bank und porträtiert den gewaltfreien Protest einer Dorfgemeinschaft, die immer wieder in die von Soldaten kontrollierte Zone vordringt.
Ein ziemlich heftiger und guter Film und ich weiß noch, dass es diese eine Szene gibt, in der Emad Burnat, immer „bewaffnet“ mit seiner Kamera, seinen Sohn mitnimmt in die Konfrontationszone. Er ist da noch sehr klein, vielleicht vier oder fünf.
An dieser Stelle sagt Burnat:
Warum sollte ich meinen Kindern diese Realität vorenthalten? Welchen Zweck hat es sie zu behüten?
Ich weiß, dass ich in den Jahren darauf immer wieder an diese Überlegung Burnats denken musste, und dass ich sie bewundernswert fand, und mutig.
Anfang dieses Jahres nahm ich meine Kinder mit zur Demo gegen Rechts.
Ich weiß noch, dass ich versuchte, ihnen zu erklären, warum wir hier waren. Warum wir hingingen. Was Rechts eigentlich bedeutete.
Wir sprachen über Nazis, über Gut und Böse, ich versuchte, zu sagen, warum Menschen sich zunehmend einfachen Erklärungsmustern zuwenden, wenn die Weltlage kompliziert ist... Ich weiß nicht, ob sie es verstanden haben, ob es bei ihnen angekommen ist.
Worüber wir nicht sprachen, oder nur ganz kurz, war das Programm der „neuen Nazis“, nämlich alle Migra-Menschen abzuschieben. Warum eigentlich, denke ich jetzt.
War das nicht feige? Ausweichend? Konnte ich meiner eigenen Angst nicht ins Gesicht schauen?
Vielleicht. Vielleicht aber auch, weil es auszusprechen bedeutet hätte, dass ich in dem Moment akzeptiert hätte, dass sie es vielleicht schaffen könnten. Weil ich das Gefühl hatte, indem ich es ausspreche, reproduziere ich ihren Hass. Weil ich ihnen Macht geschenkt hätte, in diesem kleinen Moment. Macht über mich, über meine Familie.
Entschuldigung? Wem gehört denn dieses Land?
Als Mutter komme ich da selbst in eine akute Trotzphase oder vielleicht ist es auch eine Art gut gepolsterter Naivität, gepaart mit der Einsicht: Es ist meine Aufgabe, das Unheil abzuwenden, nicht die des Kindes. Was mich wiederum an Fontane denken lässt. Wahre dir den vollen Glauben an diese Welt trotz dieser Welt.
Leyla Bektaş
wurde 1988 in Achim geboren und wuchs als Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters in Bremen auf. Sie studierte Romanistik in Köln, mit Stationen in Bordeaux und Mexiko-Stadt, später Literarisches Schreiben in Leipzig. Sie arbeitete als Dozentin für spanischsprachige Literatur, als Trainerin für Deutsch als Fremdsprache und gibt regelmäßig Seminare und Workshops für Kreatives Schreiben. Ihre Texte erschienen in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien (u.a. poetin, Tippgemeinschaft). Ihr erster Roman Wie meine Familie das Sprechen lernte, für den sie 2020 das Bremer Autorenstipendium erhielt, erschien im Herbst 2024 bei Nagel und Kimche.
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