Satzwende: Nikola Richter (1/2)

Lange Wieren und die Ruine der St. Johannis Kirche im Schnoor. Kinder spielen mit einem Hund auf der Straße
© Magnus Iken, Fotoarchiv SKB Bremen

Zeiten wie diese

Es gibt so ein No Go beim Schreiben. Es ist die Floskel von den „Zeiten wie diese“. Diese Zeiten sind ja immer diese Zeiten, manchmal diesiger, manchmal nicht. Das Diesige ist aber das Wetter. Das können wir nicht kontrollieren. Dem sind wir ausgeliefert. Seit Monaten fühle ich mich ähnlich ausgeliefert, gelähmt, umgeben von (menschengemachten) Kriegen, rechter Normalisierung, Antisemitismus, Rassismus, Umweltverschmutzung, oft genannt Klimakrise. Nix Wetter. Dabei dachte ich immer, ich könne durch das Bücherverlegen, durch „Texte mit Haltung“, wie ich gerne sagte, eine Art öffentliche Handlung schaffen und Gegenstimmen hörbarer machen. Für ein besseres Verstehen anderer Perspektiven eintreten. Das scheint mir jetzt gerade fast wie eine Selbstlüge. Die Welt brennt und ich verlege Bücher. Wie hilflos, wie frustrierend!


Dann sitze ich an meinem Verlegerinnenschreibtisch zu Hause, in Berlin, und schaue auf ein Kalenderblatt von 2015 aus der Edition Temmen, einem unabhängigen Bremer Verlag. Auf dem historischen Foto beugen sich vier Kinder im Jahr 1946 vor der im Zweiten Weltkrieg zerstörten St. Johannis-Kirche zu einem gescheckten Hund herunter. 

Hinter ihnen Trümmer, mit ihnen ein kleines Leben und ihre eigenen Leben. Sie lächeln.

Jeden Tag schaue ich auf dieses Foto, ich habe meinen Arbeitsplatz mit solchen Memento Mori versehen. Ein Foto meiner gestorbenen Mutter, darunter der Schriftzug „PRIMA“, weil sie das so gerne gesagt hat. Ein Strandbild. Ein Peanut-Cartoon über einen Plot, der dünner wird. Ein Kinderbild mit einem Einhorn, das über einen Regenbogen läuft. Ein Foto des Kottbusser Tors, einer U-Bahnstation in Berlin, mitten in Kreuzberg.


Post-its hängen auch da: über den Kleber für runde oder gerade Rücken, Büchertischrabatte, Postkistentermine. Als ich jetzt diese Zettel lese, merke ich, dass einige schon veraltet sind. Ich bin Verlegerin, seit 2013, und sehr oft sind Zahlen, „Zahlen wie diese“, Regeln, die sich auf dem Buchmarkt halt so durchgesetzt haben, mein täglich Brot. Es ist schnöde, oft öde, und die Spielräume sind manchmal schwierig zu erkennen. 

Warum bin ich jetzt bei den Zahlen? (Weil sie halt auch wichtig sind.)

Sind Sie schon ausgestiegen? 

Lesen Sie noch? Ja, was lesen Sie eigentlich so?

Ich soll hier über das Thema „INDIE“ schreiben. Und als erstes denke ich da immer an Indie-Bands, nicht an Zahlen ... An alternative Musik, irgendwie eine Alternative zu dem, was meistens da ist. Sozusagen der interessante Rote-Rettich-Salat mit roter Zwiebel und Rauke und geröstetem Kürbiskern (Rezept schicke ich auf Anfrage) statt der Salami-Pizza. 

Hören und lesen Sie indie? Wir können es nur empfehlen! 

Helfen Sie diesen Zeiten. Geben Sie Ihre Stimme dem roten Rettich. So wie das Kalenderbild, das kein klassisch schönes ist. Es erzählt von Krieg, aber vor allem von diesen Zeiten nach einem Krieg. 

Und jeden Tag zeigt es mir, dass es sich lohnt, zusammen friedlich ein Tier oder den anderen zu streicheln. Und andere Blicke auf die Welt zu verlegen.

PS: Die Hotlist versammelt jährlich Lesetipps aus unabhängigen Verlagen.

Teil 2 erscheint am 15. August.


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Das Porträt zeigt die Verlegerin Nikola Richter.
© Sarah Eick

Nikola Richter

wurde 1976 geboren und ist in Bremen aufgewachsen. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Tübingen, Norwich und an der FU Berlin. Parallel dazu besuchte sie auch Schreibkurse, etwa am Studio Literatur und Theater oder Creative Writing an der University of East Anglia, war Mitglied verschiedener Berliner Lyrikkreise und führte eines der ersten deutschsprachigen literarischen Online-Magazine schriftstelle. 2013 gründete sie den Verlag mikrotext. Der Verlag wurde 2019,2020, 2023 mit einem Deutschen Verlagspreis und 2024 mit dem Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung ausgezeichnet. Nikola Richter veröffentlichte diverse Bücher, etwa Die Lebenspraktikanten bei S. Fischer, Schluss machen auf einer Insel im Berlin Verlag und drei Lyrikbände.

Zur Website des mikrotext-Verlags

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