Satzwende: Nikola Richter (2/2)

Das Gemälde zeigt ein Feld in Louveciennes in Frankreich.
© Alfred Sisley/Musée de l'Orangerie

Die Verlegerin

Ich habe einen Anruf einer Buchhandlung bekommen.

„Ist das Buch wieder lieferbar?“

Ich diktiere die Mailadresse der Ansprechpartnerin der Auslieferung:

„Ja, am Ende: Emil, Ludwig, kein Theodor.“

Ich like Posts auf Instagram von Autorinnen und Autoren,

deren Texte ich lesen will. 

Das Private und das Berufliche soll man ja trennen. 

Macht man aber als Verlegerin nicht.

Die Manuskripte sind Privatsachen und gleichzeitig Beruf.

„Vergib! Verzeih!“, rief Schwester Gertrud an einem Juliwochenende in der Abtei Fulda.

Sie zitierte eine ältere Schwester, die, trotz Demenz, noch den präzisesten Lebensrat geben konnte.

Schwester Christa überreichte der Autorin Mely Kiyak und mir große Blumensträuße.

Im ICE lag der Blumenstrauß auf der Gepäckablage.

Manchmal duftete es von oben wie nach Wiese und nach diesem Garten1.

Dinçer Güçyeter riet mir neulich: „Schreib doch ein Langgedicht,

mit dem Titel Die Verlegerin“.

Also, hier fange ich an. Es ist kein Gedicht.

Es ist ein Stenogedicht, denn ich kann schneller tippen, als ich denken kann.

Nachdem ich mit der Schule fertig war, ging ich als Aupairmädchen nach Louveciennes.

Das liegt bei Paris.

Dort lebten einst die Künstler Renoir, Sisley und Pissarro. Auch Anaïs Nin. Und Kurt Weill.

Und dann auch ich, im Spaziergang mit einem Bullmastiff und drei kleinen Kindern.

Einmal rettete mich der Bullmastiff Simba, der sonst eher schläfrig war.

Ein Mann schoss im Park auf einen Mülleimer. Simba zog mich knurrend zum Ausgang.

In vielen Galerien sieht man Gemälde von Louveciennes: im Schnee, in der Sonne.

Zum Beispiel in der Alten Nationalgalerie in Berlin.

Man sieht nicht mich, wie ich fettige Töpfe spüle und verkrustete Pfannen, 

an diesem schönen Ort. Ich kann gut abwaschen und abtrocknen.

Weil die Franzosen oft streikten, bin ich viel Anhalter gefahren.

So wie meine Aupair-Freundinnen-Kolleginnen.

Alle meine Freundinnen wurden auf ihren Nachhausewegen fast vergewaltigt:

Eine konnte im Gespräch den Mann davon abbringen.

Eine lief weg.

Eine bekam Hilfe durch andere.

Ich hatte Glück, nur einmal spuckten mehrere junge Männer auf mich 

aus dem fahrenden Zug, 

während ich auf einem Bahnsteig wartete. 

Da war kein Streik mehr.

Ich hatte ihnen mit meinem Geld keine Schokoriegel aus dem Automaten ziehen wollen 

und so getan, als verstünde ich sie nicht.

Bevor ich nach Paris fuhr, brachte ich mir das Zehn-Finger-Tipp-System bei.

Auf einer alten elektrischen, sehr lauten Schreibmaschine.

Das Tippen ist für mich wie eine Verlängerung meines Kopfes. 

Wenn dann das Telefon klingelt, erschrecke ich.

Ein seltsamer Beruf, denke ich manchmal.

Ich kann machen, was ich will. 

Ich bin meine eigene Chefin. 

Aber es ist auch oft sehr einsam. 

Ich bin mein eigenes Kloster, in welchem ich Beete bestelle, Aussaaten aufbringe.

Marketing als eine Art, Gießwasser und Dünger zu verteilen.

Auch wenn ich nicht arbeite, arbeite ich, denn ich arbeite mit dem Kopf.

Und mit einer wöchentlich neu umgeschriebenen To-Do-Liste.

Nur, wenn ich tanze, schaltet der Kopf sich ab.

Ein paar meiner engsten Freude können Modern Dance sehr gut nachmachen.

Ich liebe Modern Dance.

Von meinem Computer aus checke ich Bestände, Newsletter-Quoten.

Ein weiteres Manuskript liegt im Ordner.2

Es will gelesen werden.

Ein weiteres Buch ist in den Druck gegangen.3

1 Mely Kiyak: Dieser Garten. Die unglaublich fabelhaften Nonnen aus Fulda und ihre genialen Erfindungen. März 2024.

2 Dora Kaprálová: Winterbuch der Liebe. Aus dem Tschechischen von Natasa von Kopp. November 2024.

3 Anton Artibilov: Angespannt vapen. Roman. Oktober 2024.

Das Porträt zeigt die Verlegerin Nikola Richter.
© Sarah Eick

Nikola Richter

wurde 1976 geboren und ist in Bremen aufgewachsen. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Tübingen, Norwich und an der FU Berlin. Parallel dazu besuchte sie auch Schreibkurse, etwa am Studio Literatur und Theater oder Creative Writing an der University of East Anglia, war Mitglied verschiedener Berliner Lyrikkreise und führte eines der ersten deutschsprachigen literarischen Online-Magazine schriftstelle. 2013 gründete sie den Verlag mikrotext. Der Verlag wurde 2019,2020, 2023 mit einem Deutschen Verlagspreis und 2024 mit dem Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung ausgezeichnet. Nikola Richter veröffentlichte diverse Bücher, etwa Die Lebenspraktikanten bei S. Fischer, Schluss machen auf einer Insel im Berlin Verlag und drei Lyrikbände.

Zur Website des mikrotext-Verlags

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