Am frühen Morgen des 7. Oktobers sitze ich auf dem Sofa eines italienischen Ferienhauses, den Laptop auf den Knien, ich will an einer Filmkritik arbeiten. Meine Freundin schläft noch. Die Sonne scheint durchs Fenster, überzieht die Wände des Wohnzimmers mit Lichtpunkten. Da leuchtet eine Eilmeldung auf meinem Smartphone auf: Die Hamas hat Israel überfallen. Die Brutalität des Angriffs lässt den friedlichen Moment surreal erscheinen.
Instagram wird in den nächsten Tagen geflutet werden: von Videos der barbarischen Anschläge, von Videos der Luftangriffe auf Gaza, von Falschmeldungen und Propaganda, Leid und Zerstörung. Die Zahl der Übergriffe auf jüdische und muslimische Menschen steigt.
Was mich zusätzlich besonders schmerzt: vorgeblich friedens- und freiheitsliebende Aktivist:innen, junge Feminist:innen, Queers und Künstler:innen, solidarisieren sich mehr oder weniger explizit mit den Zielen der Terrororganisation Hamas oder verwenden ihre Symbole, ihre Bildsprache. Sie glauben, auf diese Weise gegen Unterdrückung zu kämpfen. Das Unverständnis füreinander zieht sich durch ganze Freundes- und Bekanntenkreise. Ich frage mich, ob sich diese Risse wieder kitten lassen werden.
Während die einen laut sind, verschlägt es anderen, wie mir, erst einmal die Sprache. Ob der monströsen Gewalt. Ob des Privilegs in einem sonnendurchfluteten Wohnzimmer sitzen und sprachlos sein zu können. Dem Schock über die Empathielosigkeit und Geschichtsvergessenheit, die sich auch in Teilen der Linken zeigen. Ob der Scham, die mit Machtlosigkeit einhergeht. Und dem Gefühl, die Komplexität vieler Konflikte kaum mehr zu überblicken, obwohl wir doch so dringend Worte finden müssen, um zu beschreiben, was gegenwärtig geschieht. In Gesprächen mit Menschen, die durch ihre Familien, ihre Erfahrungen, ihr Aufwachsen, direkt betroffen sind, versuche ich, zuzuhören und nicht noch mehr Schaden anzurichten.
Wie können wir die Gräben zwischen uns und in uns überwinden? Wie lässt sich von Krieg und Gewalt erzählen, ohne einzelne Perspektiven auszuschließen? Was muss eine Gesellschaft tun, damit Opfer von Gewalt und Ausgrenzung über das Erlittene sprechen können? Fragen, die der Krieg in Gaza und seine Rezeption überdeutlich stellen.
Paula Schweers
wurde 1992 in Bremen geboren und studierte Literarisches Schreiben am Literaturinstitut in Leipzig und Europäische Kulturgeschichte in Frankfurt (Oder). Sie arbeitet beim ARTE Magazin und schreibt u. a. für ZEIT Online und das ZEIT Wissen Magazin, erhielt zahlreiche Stipendien und war Finalistin des Literaturwettbewerbs Open Mike. Paula Schweers lebt in Schwielowsee. Für die Reihe SATZWENDE ist Paula Schweers im Januar 2024 zu Gast in Bremen.
Zum Autorinnenprofil von Paula Schweers