Satzwende: Tanja Maljartschuk (2/2)

© Rike Oehlerking

Narben sind Geschichten

Jede Geschichte hat ihr eigenes Schweigen (Aglaja Veteranyi). Worüber schweigen die Geschichten unseres Körpers? Schließlich lässt alles, was unserem Körper im Laufe des Lebens zustößt, Geschichten zurück. Verbrennungen, Beulen, Rötungen, Vorderzähne, die im Alter von neun Jahren auf einem Karussell ausgeschlagen wurden… Da brach sich einer den linken Arm und schrie so laut, dass die ganze Stadt herbeieilte. Es war schön, zum ersten Mal so richtig gehört zu werden, oder? Eine Frau hat Haare auf der Nase, während die andere keine auf dem Kopf hat. Stress, sagen die beiden. Oder auch: Bakterien, Hormone, Fluch, Zufall, Ich-weiß-es-nicht. Unser Körper ist eine Bibliothek von ungeschriebenen Romanen.

Mein Großvater hatte einen verkrümmten, leblosen Zeigefinger. Großvater war ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler und genau das soll der Grund seiner Verkrüpplung gewesen sein. Angeblich erzählte er in den 1950er Jahren so begeistert von einem ermordeten Kolchos-Vorsitzenden, dass er nicht bemerkte, wie der Häcksler seinen Finger zusammen mit dem Gras abhackte. Mein Großvater unterbrach sich erst, als der Finger in den Korb mit Brennnesseln hinein rollte. Er hob den Stummel auf, wischte ihn ab, legte ihn auf die Wunde und umwickelte die Hand mit einem schmutzigen Taschentuch. Danach beendete er ruhig seine Aussage gegenüber den KGB-Ermittlern, die soeben gekommen waren, um ihn zu verhaften, und erklärte, dass nicht er den Kolchos-Vorsitzenden getötet habe, sondern die Hasen, die sich in umliegenden Wäldern teuflisch vermehrt hatten.

Danach ließ man den bekloppten Tölpel in Ruhe, während ein paar Nachbarsfamilien in wenigen Stunden ohne Gerichtsverfahren nach Sibirien abgeschoben wurden.

Meinen Zeigefinger hätte ich auch beinahe verloren. Begeistert von der Schönheit des Schleuderns steckte ich ihn im Alter von 6 Jahren in die Zentrifuge unserer Waschmaschine. Ob es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Geschichten und den Fingern gibt, ist noch unbekannt. 


Portrait Tanja Maljartschuk
© George Eberle

Tanja Maljartschuk

wurde 1983 in Iwano-Frankiwsk in der Ukraine geboren, studierte Philologie an der Universität Iwano-Frankiwsk und arbeitete nach dem Studium als Journalistin in Kiew. 2009 erschien auf Deutsch ihr Erzählband Neunprozentiger Haushaltsessig, 2013 ihr Roman Biografie eines zufälligen Wunders, 2014 Von Hasen und anderen Europäern, 2019 ihr Roman Blauwal der Erinnerung. 2018 erhielt Tanja Maljartschuk den Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Autorin schreibt regelmäßig Kolumnen und lebt in Wien.

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