Musik kann vieles für Literatur sein: große Schwester oder Rivalin, Begleiterin oder Sparringpartnerin, Muse oder zweieiiger Zwilling. Wie aber kann Musik zur Struktur eines ganzen Romans beitragen?
Während meiner Arbeit an Monster wie wir untersuchte ich Beethovens Klaviersonate Nr. 14 opus 27 Nr. 2, deren erster Satz auch Hörer*innen, die wie ich nicht extrem viel Ahnung von klassischer Musik haben, als Mondscheinsonate bekannt ist. Mit rudimentären Notenkenntnissen versuchte ich zu verstehen, was diese drei so unterschiedlichen Sätze zusammenhält.
Das Sostenuto des ersten Satzes, also das lange Halten der Bassakkorde der linken Hand mit gedrücktem mittleren Pedal, wirkte auf mich wie ein Verschwimmen der Tempi und Töne, akzentuiert vom gehobenen Pedal beim Akkordwechsel. Im ersten Teil meines Romans habe ich ähnliches versucht. Entstanden ist ein Eindruck der Gleichwertigkeit in Ruths Erinnerungen an ihre Kindheit. Schönes steht neben Schwerem, keins hebt das andere auf.
Der zweite Satz der Beethovensonate ist ein heiteres Allegretto im Dreivierteltakt. Im zweiten Teil meines Romans wiederum trennt sich Ruths Freund Viktor von seinen Nazifreunden und kommt dank einer kleinen Trickserei zu einem Job als Au-pair in Südfrankreich. Was er dort erlebt, hat oft eine Leichtigkeit, wie man sie nur nach einem ersten Satz in cis-Moll erzählen kann.
Ähnlich bin ich mit dem Presto Agitato des dritten Satzes meiner Vorlage umgegangen. Er steht in derselben Tonart wie der erste, erinnert also an ihn, wirkt aber viel entschlossener. Entsprechend kommt auch im dritten Teil meines Romans wieder Ruth zu Wort. Rasend schnell, in Zeitraffern, springt sie von einem Schwerpunkt zum nächsten. Sie tut es mit einer Anspannung, die sich still entlädt, als sie das Auto ihres Lebensgefährten einen Braunkohleabhang hinunterstürzen lässt.
Aber Struktur ist mehr als Ablauf. Der Mond aus dem populären Titel der Sonate hängt auch in Monster wie wir halb abgerissen vom Himmel, liegt als Versprecher auf der Zunge oder leuchtet als eingeschalteter Mondglobus in einem Kinderzimmer. Mit den dunklen Flecken seiner erstarrten Lavameere ist er auf der Seite derer, die – lesend und hörend – Anspruch auf eine Sprache für erlebte Gewalt erheben.
Ulrike Almut Sandig
ist in Nauwalde in Sachsen aufgewachsen und lebt inzwischen mit ihrer Familie in Berlin. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt erschien ihr Roman Monster wie wir (Schöffling & Co. 2020). Darin erzählt sie von ihrer Generation, geprägt von Um- und Aufbruch, von Identitätsverlust und der Suche nach Selbstbestimmung. Im Mai war Ulrike Almut Sandig zu Gast bei poetry on the digital road.