Satzwende: Ulrike Almut Sandig (1/2)

Post-it auf Notenpapier
© Rike Oehlerking

Musik statt Packpapier!

Über die Entwicklung einer Erzählsprache der Hörbarkeit

Von Ulrike Almut Sandig

Bevor ich die Arbeit an meinem ersten Roman Monster wie wir begann, kaufte ich eine Rolle Packpapier. Ich bewaffnete mich mit Edding und einem Stapel Post-its und ging davon aus, dass ich mir die Geschichte so beflissen erarbeiten würde, wie ich glaubte, dass man das als Romanautorin so mache. Ich stellte mir das coole Geräusch des Eddings auf dem Papier vor und war mir total sicher, dass die Konstellationen der Figuren, Storyverlauf, Kapitelstruktur, überhaupt der ganze Roman klar vor meinen Augen entstehen würden.

Die Rolle Packpapier verstaubte fünf Monate lang ungeöffnet in der Zimmerecke. Ab und zu fiel sie um. Dann stellte ich sie wieder auf. Irgendwann funktionierte ich sie zu Geschenkpapier um, glaube ich. Und statt mir eine Übersicht über das zu verschaffen, was ich eigentlich erzählen wollte, schrieb ich einfach drauflos. Zwischendurch hörte ich Musik.

Während ich meine Protagonistin Ruth auf dem Dachboden Geige üben ließ, klickte ich mich auf YouTube von einer Konzertaufnahme zur nächsten. Während ihr Spielfreund Viktor mit beiden Händen die Pedale eines Harmoniums bediente und sie selbst wie unbesiegbar über ihm thronte, mit sechs Fingern auf der Suche nach der Musik, als hätte vor ihr noch nie ein menschliches Wesen Moll gespielt, hörte ich, ja genau, Beethoven. Und als die beiden sich viel später in einem Club, den Viktor mit seinen Nazifreunden zusammenschlug, über den Weg liefen, entdeckte ich gerade eine Liveversion des Malaria!-Songs Kaltes klares Wasser.

Je besser ich die Musikalität meiner Hauptfigur verstand, umso mehr lernte ich, dass ich mich ruhig auf sie als Erzählerin verlassen konnte. Schließlich war es ihre Geschichte, nicht meine! Denn wie klingt Erinnerung, für die wir keine Worte haben? Genauer: wie übertrage ich als Autorin außersprachliche Erinnerung in Sprache? Wie also quietscht ein Bett, wenn man darauf hüpft? Und was hat das Schnaufen von Ruths Großvater mit ihrer Angst vor ihm zu tun?

Die Erzählsprache, die auf diese Weise entstanden ist, kann die Gewalt, die Ruth in ihrer Kindheit erfährt und beobachtet, nicht als solche benennen. Dazu ist die Hauptfigur, deren Eltern mit sich selbst beschäftigt sind, nicht in der Lage. Aber wie sich die Vergangenheit anhört, das erzählt Ruth – in hörbarer Deutlichkeit.

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Portrait Ulrike Almut Sandig
© Michael Aust © Villa Concordia

Ulrike Almut Sandig

ist in Nauwalde in Sachsen aufgewachsen und lebt inzwischen mit ihrer Familie in Berlin. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt erschien ihr Roman Monster wie wir (Schöffling & Co. 2020). Darin erzählt sie von ihrer Generation, geprägt von Um- und Aufbruch, von Identitätsverlust und der Suche nach Selbstbestimmung. Im Mai war Ulrike Almut Sandig zu Gast bei poetry on the digital road.

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