Satzwende: Ulrike Draesner (1/2)

Fluss tritt übers Ufer
© Rike Oehlerking

Frühling und Sommer

Jedes Frühjahr, wenn der Boden gepflügt wurde, stieg aus den Furchen der stechende Atem der Wellen, der Wind wurde wässrig und alle Brunnen, Bäche und Gräben rochen nach Fluss. Flüssig die Erde, zu viele Röhren verstopft, Weichböden von schwerem Gerät über die Maßen verdichtet. Dicht bis zu den Spitzen badete das Gras in eisigem Nass. Nass auch der Keller: man wich Gummistiefeln aus, die, die grüne Sohle nach oben, in brauner Brühe trieben, fischte mit dem Kescher nach einem goldgelben Pflaumenweckglas auf dem Vorratsbrett. Bretter und Eimer klatschten gegen die Schwelle, die beiden untersten Stufen der Treppe waren nicht mehr zu fühlen.

Fühler voraus glitten auf den rasch wachsenden Pfützen die ersten staksigen Insekten und im Obstgarten bildete sich zwischen der Birne und der Kirsche ein länglicher Teich. Teich, nicht Pfütze, das Wasser so kalt wie die Luft und von erstaunlicher Klarheit, lautlos wuchs es über die Halme und färbte die Blätter vom Vorjahr in leuchtendem Braungrün. Grün lag, war es windstill, in jeder Pfütze, schwach wie das Bild in einer Pupille, der Himmel mit Wolken und den nächsten Bäumen und mitten darin, umschlossen und gewölbt, schwebte das eigene bleiche Gesicht.

 

Im Sommer trieb Sand mit dem Wind, während sich an anderen Tagen die Luft so träge um den Körper schloss, als stehe man halb eingesunken in dem Morast, in dem der Fluss in den Innenbahnen seiner Schlingen fast zum Stillstand kam. Komatös hielten die Weiden ihre langhaarigen Häupter in diese Mittagslagunen und tranken aus ihnen, weit über den lichtlosen, luftlosen Wassern der Tiefe, wo das alte Wasser sein langsam ziehendes Wellengesicht in den eigenen Schlamm drückte. Gedrückt und grau stand die Stadt vor ihrem Horizont, der Fluss, durchdrungen von Licht und lebendigem Grün, schlängelte sich um Hügel von Sand, schäumte wochenlang weiß oder stank von totem Fisch, während er im Herbst so klar werden mochte, dass man die an verfallenen Stegen gründelnden Karpfen sehen konnte, das steinige, von Scherben, Granatsplittern und Trümmern übersäte Bett.

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Ulrike Draesner

wurde 1962 in München geboren und lebt heute in Berlin und Leipzig. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Essays und Gedichte und interessiert sich für Naturwissenschaften ebenso wie für kulturelle Debatten. Für ihre Romane und Gedichte wurde Ulrike Draesner mehrfach ausgezeichnet, allein 2020 mit dem Bayerischen Buchpreis, dem Deutschen Preis für Nature Writing, dem Preis der LiteraTour Nord und dem Ida-Dehmel-Literaturpreis. Zuletzt erschien ihr Roman Schwitters (Penguin 2020).

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