Satzwende: Ulrike Draesner (2/2)

Fluss im Herbst
© Rike Oehlerking

Herbst und Winter

Alle Bäche und Gräben rochen nach den Erdelementen der herabgeschlagenen Zweige und Blätter. Blatt um Blatt fiel in die Brunnen, an deren Grund der alte Flussgott lauerte, zugedeckt, namenlos, schwarz. Schwarzhändig erntete man Kartoffeln und Rüben, pflückte saure Äpfel, die letzten Brombeeren am Feldweg, „besser als nichts“. Wie nichts verlor die Riesenlinde ihr Laub in einer Nacht, es war, als holte das Wasser sich diesen Winter endgültig die Gärten zurück. Zurück müssten auch sie, die hier lebten, die Regierung ließ die Menschen am Wasser wohnen, bis sie überschwemmt wurden, es war wie nach einem Krieg. Ein Krieg war es gewesen.

Als es das letzte Mal fror, griff auf der Höhe ihrer Köpfe eine große Stille über das Eis. Sie klang wie Glas. Gläsern begann die Luft nach einer Weile so berückend zu duften, wie es sich niemand vorstellen konnte, nicht einmal ein Hund. Hundenasen, von Süße berauscht, streckten sich witternd gegen die Brise, die Augen der Tiere glänzten rot von dem tiefen Wintersonnenlicht. Lichttrunken wurden sie, rauflustiger und ungebärdiger als zuvor und schnappten nach Fäustlingen und Händen mit kalten, blauen Adern. Adern in den Uferfelsen traten rosafarben hervor, eisig glomm auch die unterspülte Böschung auf, als entlockte das Licht ihrem Reif, eben noch karg und ausgedörrt wie eine Schicht Salz, ein Blühen.

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Ulrike Draesner

wurde 1962 in München geboren und lebt heute in Berlin und Leipzig. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Essays und Gedichte und interessiert sich für Naturwissenschaften ebenso wie für kulturelle Debatten. Für ihre Romane und Gedichte wurde Ulrike Draesner mehrfach ausgezeichnet, allein 2020 mit dem Bayerischen Buchpreis, dem Deutschen Preis für Nature Writing, dem Preis der LiteraTour Nord und dem Ida-Dehmel-Literaturpreis. Zuletzt erschien ihr Roman Schwitters (Penguin 2020).

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