Meine letzte literarische Krise hatte ich vor zwei Jahren. Das DB-Mobil-Magazin hatte mich gefragt, ob ich einen Text schreiben könnte. Thema: Orte, die zum Schreiben inspirieren.
Ich wusste zumindest gleich mehrere Orte, an denen ich schreibe. Mein Büro, mein Schreibtisch zu Hause und der Esstisch im Wohnzimmer. Die drei Orte, an denen ich im Wechsel schreibe.
Aber nun sollte ich einen Ort beschreiben, der mich zum Schreiben inspiriert. Irgendwo in der Anfrage stand die Zahl 300 drin, die sich auf die Textmenge bezog. 300 Wörter also.
Ich schrieb einen Text von 424 Wörtern Länge. Er handelte vom Beetzendorfer Bahnhof, von dem seit 2002 keine Züge mehr abfahren. Das Gebäude war mal sehr prächtig, hatte eine große Wartehalle, ein Restaurant und direkt nebenan waren ein Eiscafé und ein Kulturhaus. All das gibt es nicht mehr und ich fand es lustig aber auch wichtig, dies der Deutschen Bahn unterzujubeln. Wenn in Beetzendorf schon kein Zug mehr fahren kann, kann Beetzendorf doch wenigstens im Zug durch Deutschland fahren. Mein Plan war genial. Ich war berauscht von der Idee, in diesem Magazin beschreiben zu können, was in den letzten 30 Jahren Verkehrspolitik falsch lief. Die Bahn selbst würde meine Klageschrift im ganzen Land kundtun!
Nun ja, der Text war etwas zu lang. Aber egal. Wird schon gehen, dachte ich. Irgendwie komme ich damit schon durch. Und selbst wenn, dann streiche ich da halt noch was weg. Vielleicht werden wir uns auf 350 Wörter einigen können. Hauptsache der Kern meiner Idee kommt zum Vorschein!
Wer kommt eigentlich auf die Idee, 300 Wörter als Maßgabe zu nehmen? Hä? Aber gut, ist halt die Bahn, die sind halt komisch.
Ich schickte den Text ab und wartete auf eine Antwort der Bahn, die auch bald eintraf. Man bedankte sich für den Text, meinte aber, dass er zu lang sei. Immerhin überschritt er die 300 Zeichen, die vereinbart seien.
300 Zeichen.
Nicht 300 Wörter.
300 Zeichen.
300.
Naja, ich bin pragmatisch. Ich strich den Text zusammen. Am Ende stand da drin, dass mich der Beetzendorfer Bahnhof zum Schreiben inspiriert. Und das tut er wirklich.
Domenico Müllensiefen
wurde 1987 in Magdeburg geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er auf einem Bauernhof in der Altmark. Mit 16 lernte er bei der Deutschen Telekom. Danach hatte er eine Anstellung als Techniker in Leipzig. Ab 2011 studierte er am Deutschen Literaturinstitut. Domenico Müllensiefen arbeitete viele Jahre als Bauleiter und ist seit kurzem freiberuflicher Schriftsteller. Er lebt in Leipzig. Für seinen Debütroman Aus unseren Feuern wurde er 2023 für den Fontane-Literaturpreis nominiert und mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis sowie dem Klopstock-Förderpreis ausgezeichnet. Mit seinem aktuellen Roman Schnall dich an, es geht los (Kanon 2024) war er im November zu Gast bei der globale° in Bremen.
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