In den siebziger Jahren wäre die DDR beinahe an der Kaffeekrise zugrunde gegangen. Brasilien hatte Mitte der Siebziger mit einer Missernte zu kämpfen. Die Kaffeepreise auf dem Weltmarkt gingen in die Höhe und die DDR konnte die notwendigen Devisen nicht aufbringen. In der Folge machten die Bürger der DDR mächtig Wind im eigenen Land, sodass die Staatsführung in Äthiopien und Vietnam Partner suchte, die preiswert Kaffee anbauen konnten. Die Afrikaner versorgte man im Tausch hierzu mit Waffen, die Asiaten bekamen Lkw und Maschinen beigestellt. Eine dauerhafte Folge der Kaffeekrise in der DDR und der nachfolgenden Kaffeepolitik ist, dass Vietnam heute, nach Brasilien, der zweitgrößte Kaffeeproduzent der Welt ist.
Zu Hause erlebe ich persönlich gerade eine ähnliche Situation. Nur das meine Krise nicht auf realsozialistischem Mangel beruht, sondern auf dem Überfluss der Konsumgesellschafft. Wenn ich ehrlich bin, hat die Einleitung nichts mit dem weiteren Textverlauf zu tun. Aber Holla, die Aufmerksamkeit ist geweckt und stellt sich die Frage, was nun wohl kommen mag!
Also es ist so: Bei mir zeichnet sich gerade eine Tee-Krise ab. Neulich machte ich Inventur im Küchenregal und stellte fest, dass sich im Laufe der Jahre sehr viele Teepackungen verschiedenster Sorten angesammelt hatten. Zum Teil liegen sie ungeöffnet im Regal, bei manchen Packungen scheinen ein oder vielleicht sogar zwei Beutel zu fehlen.
Ich habe der Teeschwemme still und heimlich den Krieg erklärt. Seit einigen Wochen trinke ich täglich fünf bis sechs Tassen Tee, sodass sich (in der grauen Theorie) der Bestand langsam auf ein normales Maß reduzieren sollte. Um schnell voranzukommen, leere ich immer die Packung, die am wackligsten im Regal platziert ist. Die Sorte spielt keine Rolle, ich saufe mich da durch, egal was kommen mag.
Doch ein Ende ist nicht in Sicht. Die Teemenge im Regal nimmt nicht ab, dabei habe ich durch mein stoisches Teetrinken mindestens drei, wenn nicht sogar vier Packungen geleert.
Neulich beobachtete ich meine Partnerin dabei, wie sie Einkäufe in der Küche abstellte. Mittendrin: 3 Packungen Tee.
Ich glaube, dass ich hier einem richtig großen Ding auf der Spur bin. Entweder entpuppt sich meine Partnerin als eine Sammlerin von diversen Teesorten und hat noch nicht gemerkt, dass ich gerade krampfhaft versuche, diesen Bestand abzubauen und somit ihre Sammlung vernichte, oder sie hat meine neue Teeleidenschaft bemerkt und möchte mir etwas Gutes tun. Wie auch immer die Dinge liegen mögen, ich trinke erst einmal in aller Ruhe weiter, warte ab, was da noch kommen mag und vielleicht habe ich bald sogar Platz im Regal für die drei neuen Packungen, die sie neulich gekauft hat.
Domenico Müllensiefen
wurde 1987 in Magdeburg geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er auf einem Bauernhof in der Altmark. Mit 16 lernte er bei der Deutschen Telekom. Danach hatte er eine Anstellung als Techniker in Leipzig. Ab 2011 studierte er am Deutschen Literaturinstitut. Domenico Müllensiefen arbeitete viele Jahre als Bauleiter und ist seit kurzem freiberuflicher Schriftsteller. Er lebt in Leipzig. Für seinen Debütroman Aus unseren Feuern wurde er 2023 für den Fontane-Literaturpreis nominiert und mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis sowie dem Klopstock-Förderpreis ausgezeichnet. Mit seinem aktuellen Roman Schnall dich an, es geht los (Kanon 2024) war er im November zu Gast bei der globale° in Bremen.
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