Literarischer Landgang
heißt das Reisestipendium, das das Literaturhaus Oldenburg jährlich seit 2015 vergibt. Auf ihren Expeditionen durch das Oldenburger Land treffen die Stipendiat*innen auf urbane und ländliche Räume, auf Natur und Kultur - von der Nordseeinsel Wangerooge bis zur Weser führen die Landgänge. Die Beobachtungen von unterwegs werden zu einem Text verdichtet.
Die bisherigen Stipendiat*innen waren Matthias Politycki, Marion Poschmann, Michael Kumpfmüller, Mirko Bonné und Judith Hermann. 2020 ging das Stipendium an Schriftsteller Jan Brandt, 2021 war Iris Wolff Landgang-Stipendiatin.
Mehr über den Literarischen Landgang im Interview mit Monika Eden vom Literaturhaus Oldenburg
„Kommen Sie“, sagt sie und winkt mich in den nächsten Raum, „das hier wird Ihnen gefallen. Ich hatte es Ihnen schon geschrieben. Das ist eine Erwerbung, auf die ich echt stolz bin. Eine große Zeichnung von Olrik Kohlhoff.“ Während ich zu Annett Reckert trete, der Leiterin der Städtischen Galerie, und wir auf das wandfüllende Bild schauen, die Kohlezeichnung eines Reihers, fragt sie: „Was fällt Ihnen auf?“ Ich mache einen Schritt nach vorn und betrachte die Zeichnung genauer: ein Reiher auf einem toten Ast, an den sich Schnecken klammern, Dutzende Schnecken. Bodennebel. Dunkler Horizont. Die grauen Gräser im Vordergrund frostig, von Raureif überzogen. Der starre Blick des Reihers. Immer wieder führe ich mir die Details vor Augen, bis ich mich, als wäre ich ein Detektiv in Ausbildung, zu Annett Reckert, meiner Meisterin, umwende. „Die Schnecken.“
„Die Schnecken“, wiederholt sie nickend, anerkennend, und fügt, als hätte ich die erste Prüfung bestanden, „sehr gut“ hinzu.
Die Schnecken kleben nämlich nicht nur am Ast, sondern auch an den Füßen und Beinen des Reihers selbst. Er ist zum Ast geworden. Unbeweglich, ganz auf sein Ziel, die Beute, konzentriert, ist er mit seiner Umgebung verschmolzen. Nichts kann ihn aus der Ruhe bringen. Er lässt die Schnecken gewähren, sie sind Teil seiner Tarnung. Ein Symbol der Beharrlichkeit. Oder ist alles ganz anders, denke ich. Ist er tot? Gefroren? Schockgefroren? Wie die Schnecken. Der Ast. Das Gras. Die Landschaft. Was ist hier passiert? Hat es eine Katastrophe gegeben? Oder einen Angriff von außen?
In einer E-Mail hatte sie von dem Reiher erzählt, von dem „Super-Reiher“, die „großformatige Zeichnung“, die sie vor ein paar Jahren angekauft habe, aber auch von dem anderen Reiher, dem verschwundenen Bronze-Reiher. „Ein Kriminalfall“, wie sie schrieb. „Eine tolle und für Delmenhorst typische Geschichte.“ Friedrich Hübner, ein älterer Herr, gebürtiger Delmenhorster, ehemaliger Kulturdezernent, der sich immer noch sehr für die Stadt engagiere, habe vor ein paar Jahren entdeckt, dass eine „Bronze-Reiher-Skulptur aus der Nachkriegszeit“, die einst vor dem längst abgerissenen Schwimmbad Delfina gestanden habe, nicht wieder aufzufinden sei. Der Bronze-Reiher stamme von einem „allseits geschätzten Künstler und Lehrer“ – Walter Behm. „Der Fall verlief im Sande“, schrieb Annett Reckert, und schlug vor, dass ich mich ja der Sache annehmen könne, wenn ich in Delmenhorst sei.
„Wir müssen aber noch über den anderen Reiher sprechen, den Bronze-Reiher“, sage ich, weil ich die Versuchung, mich in diese Kohlhoff’schen Traumwelten zu begeben, nur allzu gut kenne, die Verlockung, die darin liegt, in die Fiktion abzutauchen – sei es in Olrik Kohlhoffs oder meine eigene.
„Ach der.“ Annett Reckert schüttelt den Kopf. „Friedrich Hübner kam damals auf mich zu: ‚Annett, kannst du mal gucken, ob der Bronze-Reiher bei euch ist.‘ Hab ich gemacht, unser Depot, die Inventarlisten. ‚Nee, Friedrich, der ist hier nicht.‘ – ‚Da musst du dich drum kümmern als Galerieleiterin …‘ Das würde er jetzt zum stadtpolitischen Thema machen. Wer hat den zuletzt gesehen? Erst hat er sich an die Zeitung gewandt, dann an den Bürgermeister. Das entwickelte sich zu einem kleinen, handfesten Skandal hier, dass der nicht wieder aufzufinden war. Und ich dachte nur, den hat jetzt irgendwer im Garten stehen, am Teich, als Deko. Oder die Bauarbeiter haben den entsorgt. Oder jemand hat den geklaut und eingeschmolzen und Geld damit gemacht.“
„Der ist nie wieder aufgetaucht?“
„Nee. Ich hab jedenfalls nichts mehr davon gehört. Aber vielleicht weiß Friedrich Hübner da mehr. Vielleicht hat sich ja jemand bei ihm gemeldet. Vielleicht hat es eine Spur gegeben, einen Hinweis.“
Wir sitzen noch eine Weile im Hof des Hauses Coburg und unterhalten uns über Delmenhorst, über den Todespfleger Niels Högel, das inzwischen abgerissene Hotel am Stadtpark, das ein reicher Neonazi zum Tageszentrum der rechten Szene machen wollte, über den Wollepark und Sarah Connor. Dann mache ich mich auf den Weg in mein Hotel, ins City-Hotel am Bahnhof, checke ein, deponiere meine Sachen im Zimmer und spaziere mit meiner Kamera durch die Stadt, in der Hoffnung, in eine Geschichte hineinzugeraten, etwas zu erleben wie in Cloppenburg: ein Schauspiel, das sich ohne mein Zutun vor meinen Augen entfaltet. Ich beschließe, alles dem Zufall zu überlassen, erkläre den Zufall zum Gestaltungsprinzip meiner Reise.
Ich fotografiere leerstehende Läden, zugemauerte Schaufenster, das wegen eines umfassenden Umbaus geschlossene Jute-Center und die zum Abriss freigegebenen Blöcke des Wolleparks, jenes Plattenbauquartier in der Innenstadt, das vor Jahren bundesweit in die Schlagzeilen geriet, weil den Mietern Gas und Wasser abgedreht worden war, nachdem die Hausverwaltung das Geld nicht an die Stadtwerkegruppe weitergeleitet hatte. Von den etwa fünfzig Wohnungseigentümern hatten, wie der Verwalter klagte, nur fünf Hausgeld gezahlt. Drogenhandel. Häusliche Gewalt. Raubüberfälle. Diebstähle. Tägliche Polizeieinsätze. Aus dem Wollesee bargen Taucher vor Kurzem Handtaschen und Tresore. Ich könnte hierbleiben, denke ich, während ich im Abendsonnenschein durch die Absperrgitter zerbrochene Fensterscheiben dokumentiere. Ich müsste nur eine Nacht im Wollepark verbringen, schon hätte ich meine Geschichte. Der NDR nennt es das „Brennpunktviertel“, die Bild „die Skandal-Siedlung“. Angesichts all des offensichtlichen Elendes rund um den Bahnhof spricht der Weser Kurier gar von der „Problemstadt Delmenhorst“. Je mehr Indizien ich sammle, die dafürsprechen, dass der Stadt nicht mehr zu helfen ist, desto weniger Lust habe ich, darüber zu schreiben.
Ich packe meine Kamera ein und gehe zum Hotel zurück. Ich ziehe mich um, ziehe meine Laufsachen an und mache mich auf den Weg durch die Fußgängerzone am Rathaus vorbei Richtung Süden. Als ich die Graftanlagen umrunde, die leere Insel, muss ich an die Geschichte Delmenhorsts denken: dass die Burg verschwunden ist, dass nichts geblieben ist von der einstigen Größe der Grafschaft und die Stadt immer noch im Schatten von Oldenburg und Bremen steht. Ein paar Mal laufe um die innere und äußere Graft herum, ziehe meine Kreise an den Gräben entlang, bis ich dem Lauf der Delme folge und mich aus der Stadt hinaustragen lasse, ins Grüne hinein, unter der Autobahn hindurch, durch Schlutter, Holzkamp, Adelheide. Mir fällt der Song von Element of Crime ein, „Delmenhorst“, die Strophen, „Ich hab jetzt Sachen an, die du nicht magst / Und die sind immer grün und blau / Ob ich wirklich Sport betreibe / Interessiert hier keine Sau“, und „Ich mach' jetzt endlich alles öffentlich / Und erzähle, was ich weiß / Auf der Straße der Verdammten / Die hier Bremer Straße heißt“ und „Ich bin jetzt da, wo ich mich haben will / Und das ist immer Delmenhorst / Erst wenn alles scheißegal ist / Macht das Leben wieder Spaß“ und komme, völlig fertig, vor der Gärtnerei Schreck zum Stehen. Als sich die letzten Sonnenstrahlen im Glas der Gewächshäuser spiegeln, denke ich, halt, stopp, es reicht, Delmenhorst hat genug Negativität und Melancholie, diese Stadt ist voller trauriger Geschichten, da braucht es nicht noch eine, und beschließe, wieder im Hotel, Friedrich Hübner anzurufen und diesen verdammten Behm’schen Bronze-Reiher zu finden, koste es, was es wolle.
Jan Brandt
wurde 1974 in Leer in Ostfriesland geboren. Er studierte Literaturwissenschaft und Geschichte in Köln, London und Berlin. Sein Roman Gegen die Welt (DuMont 2011) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien Ein Haus auf dem Land/Eine Wohnung in der Stadt (DuMont 2019).
2020 erhielt Jan Brandt vom Literaturhaus Oldenburg das Stipendium Literarischer Landgang. Auf seiner Reise durch das Oldenburger Land im September 2020 entstand auf dem Zwischenstopp in Delmenhorst der Text Reiher.