Satzwende: Ronya Othmann (1/2)

Bunte Sonnenbrille liegt auf einem Gedicht von Heinrich Heine
© Rike Oehlerking

Marilyn Monroe liest Heinrich Heine

Lesende Umbrüche

Von Ronya Othmann

Von Marilyn Monroe gibt es viele Fotos mit Büchern. Oft im Hintergrund im Bücherregal hinter dem Sofa, auf dem Sideboard hinter ihrem Bett. Auf einigen Fotos sieht man sie aber auch lesen. Marylin Monroe liest Zeitung im Central Park, 1967, Marilyn Monroe liest die Motion Picture Daily in ihrem Hotelzimmer im Ambassador in New York, 1955. Ich finde einen Artikel auf n-tv.de, nachdem 2010 ihre Aufzeichnungen erschienen sind mit dem Titel Marilyn Monroe als Poetin. Keine dumme Blondine!. Der Artikel beginnt mit dem Worten „Blond, blauäugig, begehrt.“

Auf anderen Fotos sieht man sie mit einem Buch in der Hand. Marilyn Monroe liest To the Actor: On the Technique of Acting von Michael Chekhov in ihrem Hotelzimmer in New York, 1955. Sie fläzt auf dem Sofa, hat die Beine übereinander geschlagen, ihr Gesicht verschwindet hinter dem Buch. Und: Marilyn Monroe steht vor einem Bücherregal und hat einen Bildband von Goya in der Hand. Sie ist von unten fotografiert, man sieht ihren Rücken, sie trägt eine kurze Shorts und ein gestreiftes Shirt und dreht ihr Gesicht in die Kamera, 1953. Marilyn Monroe liest Ulysses. Sie trägt einen gestreiften Badeanzug. Sie sieht in das Buch. Ort und Jahreszahl kann ich nicht finden. Marilyn Monroe liest zu Hause auf ihrem Sofa, sie trägt einen schwarzen Rollkragenpullover und eine weiße Hose, 1953. Welches Buch sie hier liest, ist nicht zu erkennen.

Ich bin obsessiv mit diesen Fotos. Weil sie, so inszeniert sie auch sein mögen, intim sind: Eine Frau, die ganz versunken ist im Buch und gar nicht bemerkt, dass sie fotografiert wird. Und die in diesem Moment eine jede andere sein könnte, eine Norma Jeane Baker, Audrey Carol White, Margot Patsy McDonald. Trotzdem hat sie sich so fotografieren lassen. Mit genau diesem Buch. War es ihr Lieblingsbuch? Wollte sie damit etwas über sich sagen? Oder war es nur das, was sie gerade zufällig auch las? Marilyn Monroe sitzt in ihrem Seidenpyjama auf ihrem Bett und liest The Poetry and Prose of Heinrich Heine, 1951. Sie trägt Lippenstift.

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Porträt von Ronya Othmann
© Cihan Cakmak

Ronya Othmann

wurde 1993 in München geboren und lebt in Leipzig. Sie erhielt u. a. den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. 2018 war sie in der Jury des Internationalen Filmfestivals in Duhok in der Autonomen Region Kurdistan, Irak, und schrieb bis August 2020 für die taz gemeinsam mit Cemile Sahin die Kolumne OrientExpress über Nahost-Politik. Seit 2021 schreibt sie für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Kolumne Import Export.

2020 erschien im Hanser Verlag Ronya Othmanns Debütroman Die Sommer, für den sie mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. Sie erzählt darin von Leyla, der Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden, die in München ein Gymnasium besucht und ihre Sommerferien in einem Dorf in Nordsyrien verbringt. Es ist ein Roman voller Zärtlichkeit und Wut über eine zerrissene Welt. 2021 folgte der Gedichtband die verbrechen (Hanser), aus dem die Autorin bei der diesjährigen globale° liest.

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