Es ist ein Foto, wie es viele von Carrie Bradshaw gibt, oder Sarah Jessica Parker. Ich bin mir da immer nicht so sicher. Das liegt an den ganzen Artikeln, die ich im Halbschlaf lese, wenn ich noch nicht richtig wach bin, oder noch nicht richtig eingeschlafen. „Carrie Bradshaw: 10 High Heels aus Sex and the City, die unvergesslich bleiben“, „Typisch Carrie! Zeigt uns Sarah Jessica Parker mit diesem Outfit den neuen It-Schuh“ oder „Selbst Carrie Bradshaw ‚recycelt‘ ihre Garderobe“.
Auf dem Foto, das ich meine, trägt Carrie Bradshaw oder Sarah Jessica Parker eine große schwarze Sonnenbrille, wie sie sie oft trägt. Dazu schwarzblau schimmernde Stiletto Pumps, einen weiß-grün-karierten Mantel, der ihr gerade übers Knie reicht und unter dem ein schwarzblaues Leoprintkleid hervorblitzt.
Es ist ein beiläufiges Foto. Aufgenommen, während Carrie Bradshaw oder Sarah Jessica Parker aus ihrem Haus in Manhattan die Treppe hinunter kommt. Es gibt noch zwei andere Fotos, auf denen sie den rechten Fuß anwinkelt, wie zu einem Schritt, erst ein bisschen, dann ein bisschen mehr, und als hätte genau in diesem Moment ein Paparazzi auf den Auslöser gedrückt.
Das Buch hält Carrie Bradshaw oder Sarah Jessica Parker in ihrer Rechten. Man muss heranzoomen, um seinen Titel lesen zu können – Dawn von Selahattin Demirtaş. Der Kurzgeschichtenband, den der kurdische Politiker und ehemaliger HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş in Edirne im Gefängnis geschrieben hat, wo er seit November 2016 aus politischen Gründen inhaftiert ist.
Was für eine Geste, denke ich, die noch nicht mal eine Geste ist. Was für eine zärtliche Geste!
Ich lese einen Artikel in der Vogue zu diesem Bild: „Sarah Jessica Parker’s Latest Accessory Proves She’s a Consummate New Yorker.“ Ich scrolle runter, um zu lesen, ob nun das Buch damit gemeint ist, oder die Sonnenbrille. Es ist das Buch. „Even better than (…) the latest It bag. (…) the ultimate thinking women’s accessory“ heißt es. Ob das Buch nun auch ein Accessoire ist oder nicht, darüber kann man gewiss streiten. Aber es ist Grunde auch nicht so wichtig. #FreeDemirtaş #FreeThemAll.
Ronya Othmann
wurde 1993 in München geboren und lebt in Leipzig. Sie erhielt u. a. den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. 2018 war sie in der Jury des Internationalen Filmfestivals in Duhok in der Autonomen Region Kurdistan, Irak, und schrieb bis August 2020 für die taz gemeinsam mit Cemile Sahin die Kolumne OrientExpress über Nahost-Politik. Seit 2021 schreibt sie für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Kolumne Import Export.
2020 erschien im Hanser Verlag Ronya Othmanns Debütroman Die Sommer, für den sie mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. Sie erzählt darin von Leyla, der Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden, die in München ein Gymnasium besucht und ihre Sommerferien in einem Dorf in Nordsyrien verbringt. Es ist ein Roman voller Zärtlichkeit und Wut über eine zerrissene Welt. 2021 folgte der Gedichtband die verbrechen (Hanser), aus dem die Autorin bei der diesjährigen globale° liest.
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