Umgeblättert: Chilpancingo II

Hand blättert um
© Rike Oehlerking

Der Film hält an und kurz darauf der Bus. Der Fahrer steigt aus und ist für eine Weile nicht zu sehen. Eine Mautstelle, denkt Sofie. Cuernavaca liegt längst hinter ihnen, sie stehen irgendwo im gebirgigen Bundesstaat Guerrero, dem Zwischenland auf dem Weg zur Küste. Lange sind sie durch keinen größeren Ort gekommen, die einzige Kulisse bilden die grünen Berge und kleine Dörfer mit Nahuatl-Namen.

Der Busfahrer steigt langsam wieder in den Bus. Er sucht etwas auf seinem Fahrersitz, scheint es nicht zu finden und stellt sich dann in den Gang. Er räuspert sich, beginnt etwas zu sagen. Es gebe Studenten. Demonstrationen. Straßenblockaden.

Was ist schon Schlimmes an Studenten, denkt Sofie, während der Busfahrer aber sehr beunruhigt wirkt. Dann versteht Sofie eine Weile nichts. Am engen weißen Hemd des Busfahrers bilden sich Schweißflecken. Es fällt das Wort secuestraciones. Ein Überfall? Sofie denkt an die Geschichten von ausgeraubten Bussen. Sie greift nach ihrem Handy und Portemonnaie. Sofort alles rausrücken, erinnert sie sich. Sofie schaut zu Maara, die tief und fest schläft, sie stößt sie in die Seite, wie früher, wenn es etwas Dringendes mitzuteilen gab. Maara schläft weiter. Sofie sieht in die Gesichter der anderen Fahrgäste. Sie wirken unbeeindruckt, eine Frau blättert in ihrer Zeitung, ein Mann hinter ihnen döst.

Wir stehen kurz vor Chilpancingo, sagt der Busfahrer. Seine Stimme klingt nervös. Er fragt die Passagiere, ob sie weiterfahren sollen.

Ein Mann aus einer der letzten Reihen ruft ihm zu, na klar, wir fahren weiter. Ansonsten Schweigen.

Der Busfahrer rast durch Chilpancingo und berührt dabei häufiger das Tempolimit, was ihm der Bus mit einem lauten Piepton quittiert. Maara wacht auf und fragt: „Ist was passiert?“.


Sie erreichen Acapulco mit zwei Stunden Verspätung. Das Hotel liegt am anderen Ende der Stadt. Sofie fragt die Frau an der Rezeption: Was ist passiert? Qué pasó? Können wir morgen mit dem Bus zurückfahren? Maaras Flieger geht übermorgen, sie darf ihn nicht verpassen.

Sofie bereut, sich nicht durchgesetzt zu haben. Sie hatte doch die richtige Intuition. Für eine Nacht nach Acapulco, wer kommt auch auf solche Ideen!

Die Frau an der Rezeption wirkt genervt. Sie erwähnt alternative Strecken über Michoacán und zieht dann eine Stadtkarte hervor, in der sie verschiedene Strände einzeichnet.

Kurz darauf sitzen Maara und Sofie in einer kleinen Bucht, trinken Cocktails, essen enchiladas und schauen auf das unruhige Meer. Maara ist zufrieden. Genau so hat sie sich den Kurztrip vorgestellt.

Bevor es dämmert, laufen sie durch das alte Acapulco, es ist menschenleer. Die Häuser stehen da, intakt, aber unbewohnt. Sie kommen an einem verfallenen Hotel vorbei. Die Säulen der alten Balkone sind herausgebrochen, durch den gerissenen Putz der Fassade wuchert das Grün.

„Das war seltsam, vorhin im Bus“, sagt Sofie.

„Ach, mach dir nicht ins Hemd“, sagt Maara lachend. „Ist doch nett, so ein bisschen Abenteuer.“


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Leyla Bektaş

Die insgesamt drei Folgen der Umgeblättert-Texte stammen von der Bremer Autorin Leyla Bektaş. Sie wurde 1988 in Achim geboren und ist in Bremen aufgewachsen. In Köln, Bordeaux und Mexiko-Stadt studierte sie Romanistik, später Literarisches Schreiben in Leipzig. Sie arbeitete als Dozentin für spanischsprachige Literatur an der Universität Köln und lebt seit 2019 mit ihrem Mann und Sohn wieder in Bremen. Leyla Bektaş schreibt Prosa und Essayistisches und veröffentlichte Kurzgeschichten in Zeitschriften und Anthologien. Seit 2017 arbeitet sie an ihrem Familienroman und interviewt dafür Familienmitglieder und recherchiert innerhalb ihrer deutsch-türkischen Familie. Dafür erhielt sie das Bremer Autor*innenstipendium 2020.

Leyla Bektas
© Janina Bunk

Schreibgespräche-Podcast mit Leyla Bektas

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