Umgeblättert: Chilpancingo III

Hand blättert um
© Rike Oehlerking

Der Regen an der Küste kommt plötzlich und heftig. Sie sitzen unter einer Markise, als er beginnt. Im Restaurant sind sie die einzigen Gäste. Drinnen läuft eine Jukebox.

Maara erzählt, dass sie in der Woche an die sechzig Stunden arbeite. Außerdem glaubt sie, dass ihr Chef ein Verhältnis mit ihr beginnen möchte. Sie zeigt Sofie Fotos von der letzten Firmenfeier. Maara mit einem Sektglas, tiefem Dekolleté und einem Papierhütchen auf dem Kopf. Sofie wundert sich über Maara und ihr Leben. Es kommt ihr trostlos vor, so wie alles aus Deutschland. In der Jukebox läuft eine Cumbia von Celso Piña.

Sofie und Maara essen Meeresfrüchte und trinken michelada, das Bier mit Chili und Salz am Glasrand. Sie stoßen an auf ihren ersten Abend in Acapulco, der gleichzeitig ihr letzter Abend ist.


Der Busfahrer von Costa Line begrüßt jeden einzelnen Passagier freundlich. Eine andere Buslinie, ein gutes Omen, denkt Sofie. Der Busfahrer wirkt souverän. Sie verlassen die Stadt ohne Probleme, passieren die Mautstelle. Alles scheint auf eine ruhige Busfahrt hinauszulaufen.

Kurz vor Chilpancingo stehen LKWs auf der Fahrbahn. Es sieht aus wie ein Stau. Der Busfahrer stellt den Motor ab, er telefoniert, und sagt dann gelassen: die Autobahn ist gesperrt.

Sie steigen aus. Einige haben ihre Motoren noch laufen. Viele sind am Telefonieren. Die Sonne legt sich bereits auf die Berge von Guerrero. Der Hang hinter der Fahrbahnabsperrung ist gesät mit Müll.

Aus einer Panik heraus spricht Sofie alle Leute an, die um sie herumstehen.

Der Busfahrer sagt: „Vielleicht müssen wir die Nacht auf der Autobahn verbringen. Das habe ich schon mal erlebt, als der Hurrikan durch Acapulco wütete.“

Ein älteres US-amerikanisches Ehepaar sagt: „This can take hours. You better get yourself something to eat.”

Eine Frau mittleren Alters, die gerade noch am Handy war, zeigt in die Fahrtrichtung und sagt: „Mein Mann steht da vorne mit ihnen und blockiert die Autobahn.“

„Was ist passiert?“, fragt Sofie die Frau. Die Frage, auf die niemand in Acapulco ihr eine Antwort geben wollte. „Warum blockieren sie die Autobahn?“

„Es ist der Ort der größten Sichtbarkeit für die, die sonst niemand sieht. Das hier ist eine arme, ländliche Region, weißt du, selbst die Studenten haben kaum Aussicht auf ein besseres Leben. Aber dieses Mal…“, sagt die Frau und zögert einen Moment „ist es etwas anders. Es sind die Eltern der verschwundenen Studenten.“

Sofie möchte fragen, warum die Kinder der Eltern verschwunden sind, aber dann klingelt das Handy der Frau erneut.

Maaras Flieger geht morgen um 19 Uhr, noch 26 Stunden bis dahin. „Im Notfall fahre ich halt direkt vom Busbahnhof zum Flughafen“, verkündet sie unbekümmert und holt sich Tostadas vom Straßenrand.

Sofie hat keinen Hunger. Sie beginnt eine SMS an Clara: „Sitzen fest…“, aber sie schafft es nicht, sie abzuschicken. Was, wenn sie hier nie rauskommen? Wenn man sie vergisst und sich niemand für sie einsetzt?

Nach fünf Stunden stellen Maara und Sofie ihre Sitze zurück und legen ihre Jacken über sich als Decke. Weil es draußen mittlerweile kalt ist, legen sie ihre Hände ineinander, so wie früher, um sich zu wärmen.


In der Hauptstadt hat sich die Nachricht über Nacht verbreitet. Am 26. September 2014, vier Tage bevor Maara und Sofie nach Acapulco fuhren, wurden drei Busse auf der Autopista del Sol von Studenten aus Ayotzinapa gekapert, mit denen sie zum alljährlichen Marsch zum Gedenken an das Massaker von Tlatelolco nach Mexiko-Stadt fahren wollten. Bei dieser gängigen Praxis, die in der Regel gewaltlos ablief, wurden sie in diesem Jahr von Polizisten abgefangen, die die Studenten attackierten, erschossen und zum Teil verschleppten. Von ihnen fehlt jede Spur. Noch hat sich die Zahl 43 nicht ins Gedächtnis Aller eingebrannt, aber die Zahl der Verschwundenen steigt stündlich an.

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Leyla Bektaş

Die insgesamt drei Folgen der Umgeblättert-Texte stammen von der Bremer Autorin Leyla Bektaş. Sie wurde 1988 in Achim geboren und ist in Bremen aufgewachsen. In Köln, Bordeaux und Mexiko-Stadt studierte sie Romanistik, später Literarisches Schreiben in Leipzig. Sie arbeitete als Dozentin für spanischsprachige Literatur an der Universität Köln und lebt seit 2019 mit ihrem Mann und Sohn wieder in Bremen. Leyla Bektaş schreibt Prosa und Essayistisches und veröffentlichte Kurzgeschichten in Zeitschriften und Anthologien. Seit 2017 arbeitet sie an ihrem Familienroman und interviewt dafür Familienmitglieder und recherchiert innerhalb ihrer deutsch-türkischen Familie. Dafür erhielt sie das Bremer Autor*innenstipendium 2020.

Leyla Bektas
© Janina Bunk

Schreibgespräche-Podcast mit Leyla Bektas

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