Bremen liest Heidelberg - Teil 2

Auf einem Buchrücken steht "Bremen - Heidelberg"
© Rike Oehlerking

Im September haben Autor*innen der deutschen Cities of Literature – Heidelberg und Bremen – in der jeweils anderen Stadt gelesen. In Bremen lasen Ralph Dutli, Claudia Klingenschmid und Claudia Kiefer im Rahmen von Bremen liest! im Kulturzentrum Lagerhaus. In Heidelberg waren Anke Bär, Leyla Bektaş und Jutta Reichelt eingeladen, um passend zum Festivalthema „Über Grenzen” innerhalb des Literaturherbst Heidelberg aus ihren Veröffentlichungen zu lesen. Wie die City of Literature Heidelberg selbst feiert auch der Literaturherbst Heidelberg in diesem Jahr zehnjähriges Jubiläum. Durch die Veranstaltungen haben sich nicht nur die Autor*innen besser kennengelernt, sondern auch die Institutionen, die hinter den Literaturschaffenden stehen: das Kulturamt Heidelberg und das Bremer Literaturkontor, deren Mitarbeiter*innen beide Lesungen begleitet haben.

Bei den Veranstaltungen vor Ort ging es neben dem literarischen Schaffen der einzelnen Autor*innen auch um die Erfahrungen auf der einen und die Erwartungen auf der anderen Seite: City of Literature – was bedeutet das eigentlich? Welche Möglichkeiten bietet der Titel für Autor*innen, wie kann der Titel die Literaturszene einer Stadt verändern?

Diese großen Fragen sollen jetzt nicht noch mal beantwortet werden. Stattdessen haben wir die sechs Autor*innen aus Bremen und Heidelberg gebeten, Momente aus ihren Besuchen in der anderen Stadt Revue passieren zu lassen und literarisch zu verdichten. Es folgt der zweite Aufschlag der Autor*innen Ralph Dutli (aus Heidelberg) und Anke Bär (aus Bremen).

Aus dem Notizbuch des Hahns

Von Ralph Dutli

Vier Tierchen haben aus heller Lust
      und lauter Laune Bremen erfunden.
Claudia fotografiert das Wort Herbstzeitlose.
Claudia gibt mit der variablen Mütze
     den Falken im Flugzeug.
          O die Loopings der locker maskierten Vögel!
Ein findiger Pferdefreund restauriert
     den verschlüsselten Zimmercode der Poesie.
Der Maestro dirigiert in den weiten Saal hinaus
     eine fröhliche Leere.
Ja? Nein? Nin – ja? Oh nein! Ja – nin – friend – li – est.
     Bremen wird heute husch-husch halluzinogen.
Also Hund: vierbeinig das Märchen als Weltallzelt.
          Also Katze: Schlaue Paula fordert den Lohn.
Also Hahn: wahrer Hüter der Poesie lallend-prall & fein.
     Also Esel: der will ich sein, aber bitte nicht allein.
O Bruder Grimm: so nimm’s, o nimm es, nimm!
In meinem luftgewebten Heidelhemd hab ich
     für Alba leicht & gern gedichtet:
Die Stadt wo man lebt ist die Stadt wo man strandet
     bewohnt habe ich immer nur eine Stimme
          sie ist ein Zelt: wo alle Nacht sich verkriecht
               lass ich für dich schnurstracks! Herzblut blühen


Die Statue Vater Rhein in Heidelberg.
© Anke Bär

Vater Rhein

von Anke Bär

Ich hatte Mitleid mit Vater Rhein. Wie er dalag. So furchtbar unbequem! Die Felsen stumpf bohrend im Rücken, den viel zu großen Kopf auf eine Art steinernes Stützkissen gebettet. Sein Nacken war sicher bretthart, vollkommen verspannt! Die beiden Pupillen auseinanderstrebend, fahl, jedenfalls nicht fokussiert. Wie so oft wirkte er starr vor unbewusster Scham, exponiert und splitternackt, bis auf die paar Feigenblätter. Seinen Peinigern ausgeliefert, durch all die Jahre, besonders die weit zurückliegenden. Er wusste nie wirklich etwas mit sich anzufangen. Und so lagen auch heute seine Hände, große Pranken, wenig hilfreich neben ihm. Es fehlten lebensspendende Visionen. Oder aber die Visionen waren so abgehoben, dass sich keinerlei Verbindung zur Realität einrichten ließ. Ich wusste, dass er krank war. Schon lange. Auch wenn es mir spät aufgegangen war. Sein Körper bereits wieder geschrumpft und bedeckt von kriechenden Flechten, dabei war er nicht ein einziges Mal übermütig ins Wasser gesprungen. Um ehrlich zu sein, der Rhein war ihm schon immer eine Nummer zu groß gewesen. Und auch das Vatersein. Er tat mir leid, ja! Auf seinem welken Felsen, unfähig den Blick zu senken, um inmitten grellgrüner Algen das alljährlich werdende Leben zu verfolgen: Die atemberaubende Metamorphose der Erdkröten, Feuersalamander und Bergmolche. Bis sie ihn, erwachsen geworden, allesamt wieder und wieder zurückließen in seiner unersättlichen Einsamkeit, ohne dass er ihre Anwesenheit überhaupt bemerkt hätte. 

„Vater Rhein“ liegt im Schlossgarten des Heidelberger Schlosses, dem einstigen „Hortus Palatinus“ aus dem 17. Jahrhundert. 


Ralph Dutli spricht ins Mikorphon.
© Marvin Dreblow

Ralph Dutli

wurde 1954 in Schaffhausen (Schweiz) geboren. Er studierte Romanistik und Russistik in Zürich und Paris und lebt seit 1994 in Heidelberg. Er ist Romanautor, Lyriker, Essayist, Biograph, Übersetzer und Herausgeber. Er veröffentlichte mehrere Romane und Gedichtbände. Für seine Vermittlung moderner russischer Lyrik erhielt Ralph Dutli den Johann-Heinrich-Voß-Preis 2006 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, für seinen Roman Soutines letzte Fahrt, der in mehrere europäische Sprachen übersetzt und für den Deutschen wie für den Schweizer Buchpreis nominiert war, den Rheingau Literaturpreis 2013 und den Preis der LiteraTour Nord 2014, sowie den Düsseldorfer Literaturpreis 2014 für sein literarisches Gesamtwerk, den Erich Fried Preis 2018, den Deutschen Sprachpreis 2021 der Henning-Kaufmann-Stiftung und den Übersetzerpreis Ginkgo-Biloba für Lyrik 2023.

Anke Bär

ist Illustratorin, Autorin und Kulturwissenschaftlerin und gibt im Rahmen von Lehraufträgen, Workshops und Schulkooperationen Kurse für Erwachsene und Kinder. Sie empfindet es als großes Geschenk, dass sie in ihrem beruflichen Tun verschiedene künstlerische Ausdrucksformen und auch wissenschaftliche Arbeit und Lehrtätigkeit miteinander verbinden und immer wieder neue Herausforderungen aufgreifen kann. Zuletzt erschien ihr Kinderbuch Kirschendiebe oder als der Krieg vorbei war sowie Divertimento: Kirschendiebe, eine Lesung aus dem Buch in Zusammenarbeit mit den Bremer Philharmonikern auf CD.

Zum Autorinnenprofil von Anke Bär

Porträt von Anke Bär
© Cosima Hanebeck

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